2. Gregors Jugend
Es ist nicht möglich, nach den bisherigen Quellen das genaue Geburtsdatum Gregors anzugeben; die Geschichtschreiber entscheiden sich für das Jahr 540. 1 Gregor ist ein Sprosse des Senatorengeschlechtes der Anicier, das beim Adel, im Staat und in der Kirche in hohem Ansehen stand und über große Reichtümer verfügte. Der Vater Gregors, Gordianus, besaß auf dem Clivus Scauri, einem Ausläufer des Mons Coelius, einen Palast und ausgedehnte Besitzungen in Sizilien. Er war Regionarius, d. h. Vorsteher eines der sieben Bezirke, in die die Stadt von der Kirche eingeteilt worden war. Die Mutter Gregors, die hl. Silvia, deren Fest am 3. November begangen wird, besaß einen Palast auf dem Aventin in der Nähe von S. Saba. Gregor hatte einen Bruder, den er nicht mit Namen nennt; er war Stadtpräfekt, als Gregor S. 16 zum Papst gewählt wurde. 2 Gregor erzählt uns auch von drei Schwestern, von denen Tharsilla 3 und Ämiliana 4 als Heilige verehrt werden; Gordiana, die einige Zeit mit den Schwestern zurückgezogen lebte, heiratete später den Verwalter ihrer Güter. Auch einer Tante namens Pateria tut Gregor Erwähnung; sie lebte in ärmlichen Verhältnissen auf Sizilien und wurde von ihm unterstützt. Wir erfahren von einer Anicia Faltonia Proba, daß sie einige Zeit in Karthago unter der Leitung des hl. Augustinus ein klösterliches Leben führte. 5 Auch einen heiligen Papst hatte die gens Anicia der Kirche schon geschenkt, Felix III., der die Kirche von 483—492 regierte.
In die Kinderjahre Gregors fallen ernste Ereignisse: die mehrmalige Belagerung Roms, Hungersnot und die allmählige Verödung der Stadt. Schmerzlich vermissen wir nähere Nachrichten über die wissenschaftliche Ausbildung Gregors. Wir hören nichts mehr von Grammatiker- und Rhetorenschulen. Mit so vielem anderen waren sie in der Ungunst der Zeit verschwunden. 6 Cassiodorus faßte noch den Plan, in Rom eine theologische Hochschule zu gründen, doch der Ausbruch des Gotenkrieges vereitelte das Unternehmen. Wer nur immer von den Lehrern es vermochte, verließ Rom und begab sich nach Byzanz oder Berytus. Wir können und müssen aber annehmen, daß in den adeligen Familien noch eine große Vertrautheit mit klassischen Autoren, vor allem mit Cicero, Vergil, Seneca, Quintilian vererbt wurde. Es konnte wohl für einen Sohn aus adeliger Familie immer noch ein Lehrer gefunden werden; und naheliegend ist es, für einen Sohn aus senatorischem Geschlechte eine juristische Unterweisung anzunehmen. Mit dem Griechischen, dessen Pflege in Rom schon seit längerer Zeit aufgehört hatte, war Gregor nicht vertraut. Dennoch urteilt der Diakon Agiulf über ihn: „Litteris grammatecis S. 17 dialecticisque ac rhetoricis ita est institutus, ut nulli in urbe ipsa putaretur esse secundus.“ 7
Wenn wir Gregors Schriften nach Zeugnissen seiner Jugendbildung durchsehen, finden wir einen ernsten, melancholischen Zug, der ihn hart über die literarische Bildung urteilen läßt. „Die Weisen dieser Welt“, sagt er, „legen Gewicht auf die Beredsamkeit; ihre Aussprüche haben ein schönes Gesicht, sind aber geschminkt; sie lügen, da ihnen ein wirklicher Inhalt abgeht; sie sind nur eitle Wortbildungen und mit schönen Farben überzogen.“ 8 In dem Begleitbrief zu den Moralia an Bischof Leander verachtet Gregor die infructuosae loquacitatis levitas und schreibt: „Darum wollte ich mich nicht nach der Redeweise, wie sie die weltlichen Rhetoren lehren, richten, meide, wie auch dieser Brief zeigt, weder Metacismen noch Barbarismen und beachte nicht Wortstellung und Rhythmus und den Kasus der Präpositionen; denn ich halte es für ganz und gar unwürdig, daß ich die Worte des himmlischen Orakels unter die Regeln des Donatus beugen soll.“ 9 Wir werden auf diese vielzitierte Stelle weiter unten noch zurückkommen, wenn wir von der Sprache und vom Stil Gregors sprechen müssen; es sei aber schon hier gesagt, daß Gregor mit diesen stark übertreibenden Worten nicht eigentlich die Grammatik an sich verachten will, sondern daß er seiner ernsten Auffassung Ausdruck verleiht; ihm ist die Erfassung des göttlichen Lehrinhalts und dessen deutliche Wiedergabe die Hauptsache, so daß er sich der Arbeit des Feilens und Polierens, des äußeren Aufputzes und des beabsichtigten Glanzes entheben zu müssen glaubt. Mit dieser Anschauung berührt sich die Meinung Stuhlfaths, 10 daß die Ablehnung des ciceronianischen Lateins, das zur S. 18 Manier geworden war, eine gesunde Reaktion verrät. Die strenge Auffassung, das Erfassen des Kernes einer Sache unter Preisgabe der kunstvollen äußeren Form bildete sich bereits in der Seele des Knaben, da die Beschäftigung mit geistlichen Dingen, vorab mit der Heiligen Schrift und den Vätern, die in der schweren Zeit allein Trost und Halt geben konnten, die Pflege der rein formalen Geistesbildung mehr zurücktreten ließ.
Für das Gemüt des jungen Gregor blieb sicherlich die nähere Umgebung seines elterlichen Hauses nicht ohne Einfluß; sie war ja ganz dazu angetan, die ernste Sinnesrichtung zu fördern. Tiefe Melancholie herrschte ringsum; denn in der Niederung vor dem väterlichen Palaste entstand ein Sumpf, da die Aquädukte durch die Kriege Schaden litten; zur Rechten schaute das Flavische Amphitheater herüber, das zwecklos in die Lüfte ragte; vor ihm lag der Palatin mit den Kaiserpalästen, die, unbewohnt, geplündert und ausgeraubt, einen trostlosen Anblick boten; die Statuen waren umgestürzt und lagen auf dem Boden; niemand pflegte mehr die Garten- und Parkanlagen am Abhang des Palatin; zur Linken lag der Circus Maximus, in dem König Totila 549 die letzten Rennen veranstaltet hatte, verödet da und verwahrlost wie die übrigen Gebäude. Über den Circus Maximus hinweg schweifte der Blick auf den Aventin mit den vereinsamten Thermen des Caracalla; zwischen Palatin und Aventin dehnte sich in der weiten Ebene zu beiden Seiten des Tiber ein ausgestorbenes Häusermeer aus mit seinen leeren Tempeln und Theatern. Das sah der Knabe und Jüngling Tag für Tag; es bietet ihm keinen Reiz, sondern wendet seinen Geist dem Inneren und dem Ewigen zu. Darum sucht er auch den Verkehr mit älteren, erfahrenen, frommen Männern. Er erzählt selbst, daß er von Abt Konstantin von Monte Cassino, der 560 starb, die Lebensgeschichte des hl. Benedikt erfahren habe; auch mit Honoratus, dem Abt von Subiaco, verkehrt er. Wenn man bedenkt, wie anschaulich Gregor in wenigen Strichen die Örtlichkeit von Monte Cassino und Subiaco zeichnet, darf man sich fragen, ob er nicht etwa diese Männer, die zuweilen Gäste in seinem väterlichen Hause waren, in ihren Abteien be- S. 19 sucht haben mag. Die unzähligen und treffenden Vergleiche, die er der Schiffahrt entnimmt, lassen endlich vermuten, daß Gregor mit dem Meere wohlvertraut war und wahrscheinlich öfter nach Sizilien gefahren ist, wo des Vaters Besitzungen lagen.
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Vgl. W. Stuhlfath, Gregor I. der Große, Heidelberg 1913, S. 7. ↩
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Ildefons Schuster, Les ancêtres de S. Grégoire le Gr. Revenue Bénédictine 1904, p. 117. ↩
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Martyrol. 24. Dez. ↩
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Martyrol. 5. Jan. ↩
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Nuovo Bollettino d’archeol. christ. anno VIII, n. III—IV, pag. 211—216. ↩
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Vgl. Dr. Georg Heinrich Hörle, Frühmittelalterliche Mönchs- und Klerikerbildung in Italien. Freiburg i. Br. 1914. ↩
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Gregor v. Tours, Hist. Franc. X 1. ↩
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Moral. 1. XVIII, c. 46, Migne P. L. LXXVI 82. ↩
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Unde et ipsam loquendi artem, quam magisteria disciplinae exterioris insinuant, servare despexi. Nam sicut huius quoque epistolae tenor enuntiat, non metacismi collisionem fugio, non barbarismi confusionem devito, situs motusque et praepositionum casus servare contemno, quia indignum vehementer existimo, ut verba caelestis oraculi restringam sub regulis Donati. Ep. ad Leandrum, Migne P. L. LXXV 516. ↩
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A. a. O., S. 15. ↩
