Anordnung oder Ordnungslosigkeit
In der Frage nach Anordnung oder Ordnungslosigkeit des Gedankengangs der „Rede“ galt es natürlich vor allem anderen, ihrem bunten Inhalt durch Hervorhebung der Hauptgedanken und deren Betonung gegenüber allem Beiwerk gerecht zu werden. Demgemäß habe ich die überlieferte Kapiteleinteilung, durch die Zusammengehöriges meist auseinandergerissen und logisch Getrenntes in mechanischer Weise verbunden wird 1, grundsätzlich zugunsten einer sinngemäßen Gliederung des Textes aufgegeben 2. Leitmotive habe ich, wo nötig, durch Sperrdruck hervorgehoben, die vielgetadelten „Exkurse“ des Redners (Kap. S. 181 XV 5, XXVI 9, XXX 5, XXXI 7-XXXV, XL 2 f.) in Kursive setzen lassen und auch in den Anmerkungen durch kurze Inhaltsangaben der zusammenhängenden Partien und durch sorgfältige Nachweise paralleler Bemerkungen des Redners die Logik seiner Gedankenfolge zu verdeutlichen gesucht. Das Ergebnis dieses analytischen Versuches läßt sich in folgendem Dispositionsschema darstellen:
- *I. Einleitung Kap. I 1-IV 2: **
Die Kultur der Griechen ist barbarischen Ursprungs (I 1-3), ihre Sprache ist ein Kauderwälsch (4-6), ihre Rhetorik, Dichtkunst und Philosophie erweisen sich als Afterkünste und die Vertreter griechischer Bildung sind Großsprecher, Lüstlinge, Nichtswisser, schlechte Erzieher, Lügner, Kampfhähne und Speichellecker (7-III 10); mit Unrecht werden die Christen von den Göttergläubigen verfolgt (IV 1-2).
- *II. Thema Kap. IV 8-XLI: σύγκρισις des Christentums mit dem Griechentum. **
A. Kap. IV 3 - VII 6: christliche Kosmologie: 1) Kap. IV 3 - 5 : Definition des christlichen Gottbegriffes. 2) Kap. V: Verhältnis des Logos zum Vater, Bildung der Materie und Weltschöpfung. 3) Kap. VI - VII 1: Erschaffung der Menschen, Auferstehung und jüngstes Gericht. 4) Kap. VII 2 - 6: Erschaffung der Engel, Willensfreiheit und Sündenfall der Engel und Menschen, böse Engel oder Dämonen.
B. Kap. VIII - XX: christliche Dämonologie :
1) Kap. VIII - XI: Fatum und Nativitätsglaube sind Erfindungen der Dämonen (VII1 1-2, IX 1-4), die lächerliche Götter sind (VIII 3-13, IX 5-XI1); in der Freiheit ihres Willens sind S. 182 die Menschen leider zu Sklaven der Dämonen geworden, können sich aber durch Entsagung von allem Weltlichen aus ihrem Banne befreien (XI 2-6).
2) Kap. XII-XV 1: Um Kraft zur Entsagung zu gewinnen und der Herrschaft der Dämonen, die gleich den Menschen einen „materiellen Geist“ πνεῦμα ὑλικόν besitzen (XII 7-9) und dem Sündentod anheimgefallen sind (XIV 2-6), entrinnen zu können, müssen wir, wie uns göttliche Offenbarung kundtat (XII 6; 11), die Wiedervereinigung unseres „materiellen Geistes“, den man schlechtweg „Seele“ ψυχή nennt, mit dem „himmlischen Geiste“ πνεῦμα ἐπουράνιον anstreben; denn der „himmlische Geist“ hat wohl einst in der Brust der ersten Menschen gewohnt, wurde aber daraus durch die von den Dämonen eingegebene Sünde vertrieben (XIII 5).
3) Kap. XV 2 - XVI 6: Die Dämonen , die uns zur Sünde verführen (XV 11), sind nämlich „Spiegelbilder“ der Materie und Bosheit (keinesfalls die Seelen abgeschiedener Menschen XVI 1) und besitzen wegen ihrer materiellen Konstitution (XV 8, vgl. XII 7) keine Möglichkeit der Buße; dagegen sind die Menschen , wenn sie mit dem Panzer des „himmlischen Geistes“ gewappnet sind (XVI 6), „Ebenbilder“ Gottes (XV 3 ff.), die trotz der Dämonen durch gottgefällige, im Glauben vollzogene Selbstabtötung und Verwerfung der Materie (XV 11) die Unsterblichkeit zu erringen vermögen (XVI 6). 4) Kap. XVI 7 - XX: Da also der Mensch, der die Unsterblichkeit **erringen will, vor allem die Materie abtun muß, so soll er auch den Tod nicht fürchten (XIX 5), in Krankheit auf die Heilkunde und ihre „materiellen" Mittel verzichten und selbst dann, wenn er in seiner Schwachheit zu Arzneien greifen sollte, seine Heilung S. 183 lediglich Gott zuschreiben (XX 1); denn wie das Fatum (vgl. VIII 1-2, IX 1-4) und die verwandten Künste der Mantik und der Magie, so ist auch die Heilkunde nur von den Dämonen zur Verführung der Menschen erfunden worden (XVII 4f., XVIII 7 ff.). Alle drei Künste sind verwerflich, weil sie unser Streben nach dem ursprünglichen Heilszustande behindern und jene bessere, von Krankheit und Kämpfen freie Welt, in die wir zurückkehren wollen, ihrer nicht bedarf (XX 3 ff., vgl. XVI 7 ).
C. Kap. XXI - XXX: Götterlehre, Theaterwesen , Philosophie, Ethik und Gesetzgebung des Griechentums im Lichte christlicher Weltanschauung:
1) Kap. XXI: Das Geheimnis der Menschwerdung unseres Gottes ist keine törichte Fabel; albern sind vielmehr die Märchen über Verwandlungen und Taten der Griechengötter und am einfältigsten die Versuche, diese Götter allegorisch auszudeuten.
2) Kap. XXII - XXIV: Die griechischen Theater, in denen Festvorstellungen zur angeblichen Ehre der Dämonen gegeben werden, sind allenthalben wahre Lasterschulen. die Arena mit ihren Gladiatorenkämpfen gleicht einer Schlachtbank, und Tanz, Musik und Poesie der Hellenen erweisen sich als sündhafte oder doch ganz wertlose Kunstübungen.
3) Kap. XXV - XXVIII: Verkehrt, widerspruchsvoll, unduldsam und trügerisch sind vollends die Behauptungen und Vorschriften der Philosophie, der Götterlehre und der Gesetzgebung der Griechen.
4) Kap. XXIX - XXX: Um so heller leuchten die Vorzüge der „barbarischen“ Religion gegenüber der Griechenlehre. S. 184
D. Kap. XXXI - XLI: Höheres Alter und höhere Sittlichkeit des Christentums mit besonderer Zurückweisung des Vorwurfs der Unzucht, Blutschande und Anthropophagie:
1) Kap. XXXI 1-6 und XXXVI - XLI (sog. „Altersbeweis“): Wie sehr endlich die „barbarische“ Religion nicht bloß durch die Vorzüge ihrer Satzungen, sondern auch durch ihr Alter der Griechenlehre überlegen sei, ergibt sich daraus, daß Moses vor Homer (XXXI 1-6, XXXVI 1 - XL 1), ja vor allen vorhomerischen Schriftstellern, selbstverständlich auch vor den Gesetzgebern der Griechen und vor den sieben Weltweisen gelebt hat (XLI).
2) Kap. XXXI 7 - XXXV: Was freilich griechische Schriftsteller über die Lebenszeit Homers gesagt haben, das sind kunterbunte Hypothesen, die sich gegenseitig ausschließen und jene privilegierten Besserwisser zur Fälschung der geschichtlichen Tatsachen geführt haben (XXXI 7; XXXII 6; vgl. XL 2 - 3); christliche Wissenschaft und Lebensführung dagegen ist frei von Mißgunst und Torheit und kennt allerdings keinen Unterschied des Standes und der äußeren Erscheinung, des Vermögens und der Bildung, des Geschlechtes und des Alters: aber der hieraus geschmiedete Vorwurf sexueller und thyesteischer Verirrungen fällt nur auf die Anhänger des griechischen Götterkultes selbst zurück, in dem derlei Schändlichkeiten allenthalben zu Hause sind (sogen. „Künstlerkatalog“).
- *III. Schlußbemerkung Kap. XLII: **
Der Barbarenphilosoph Tatian, der euch bekehren will, scheut keine Kritik seiner Lehre, an der er vor Gott und den Menschen immerdar festhalten wird.
S. 185 Überprüft man dieses Schema am Wortlaut der Rede, so wird man allenthalben feststellen können, daß sich Tatian in der Anwendung eines rhetorischen Kunstmittels, des sog. „Exkurses “ , den die antike Theorie gewöhnlich παρέκβασις (egressio) genannt hat, große Freiheiten erlaubte und damit vor strengen Lehrmeistern wie z. B. Quintilian IV 3, 3 f.; 8; 17 kein Lob davongetragen hätte. Nicht minder gewiß aber bleibt die Tatsache, daß selbst sein längster Exkurs, der angebliche „Künstlerkatalog“ (Kap. XXXI 7 - XXXV, s, unten die Anmerkung zu Kap. XXXII 3), ganz im Einklang mit einer bekannten Vorschrift bei Quint. a. O. § 14 f. „ad utilitatem causae“ gereicht, d, h, mit dem Thema in logischem Zusammenhange steht: „nam quidquid dicitur praeter illas quinque quas fecimus partes 3, egressio est: indignatio, miseratio, invidia, convicium, excusatio, conciliatio, maledictorum refutatio ; similia his, quae non sunt in quaestione, omnis amplificatio, minutio, omne adfectus genus, et· quae maxime iucundam et ornatam faciunt orationem, de luxuria, de avaritia, de religione, de officiis , quae sunt argumentis subiecta similium rerum, quia cohaerent , egredi non videntur “. Aber noch mehr: indem Tatian mit seinem „Künstlerkatalog“ just den nüchternsten Teil seines Themas, den „Altersbeweis“, unterbrochen hat, entsprach er auch noch einer zweiten Vorschrift antiker Theorie, durch die für kunstmäßige Rede Abwechslung (variatio) verlangt wurde, „ne dilatis diutius dicendi voluptatibus oratio refrigesceret“ (Quint. a. O. § 2). Ja Tatians eigenes Wort in Kap. XXXV 2 über die „Notwendigkeit seiner Abschweifung“ zeigt noch ein drittes Moment auf, warum er vor einer so umfangreichen „tractatio extra ordinem“ (Quint. a. O. § 14) nicht zurückscheute. Schon B. Keil 4 hat die zahlreichen Abschweifungen, die sich S. 186 griechische und römische Autoren vom geraden Wege der Darstellung gestattet haben, daraus erklärt, daß „die Antike die unkünstlerische Anmerkung moderner wissenschaftlicher Darstellung nicht gekannt hat“. Im Anschluß an diese Beobachtung hat Ed. Norden 5 auf Aristoteles, Tacitus, Cassius Dio und besonders zutreffend auf Clemens Alexandrinus strom. I 14 hingewiesen: „Clemens zählt hier die Weisen Griechenlands auf, bei Epimenides fällt ihm plötzlich der Vers des Paulus von den Kretern ein 6, woraus er Veranlassung nimmt, alle anderen Stellen, an denen der Apostel Zitate aus der hellenischen Literatur hat, zu nennen, und erst dann geht es in der Aufzählung der Weisen weiter“. Ich denke, die Analogie mit dem „Künstlerkatalog“ bei Tatian ist so einleuchtend, daß ich mich meinerseits mit dem ergänzenden Hinweis auf eine besondere Spielart der antiken Rede bescheiden kann, von der uns Dio von Prusa 7 charakteristische Proben hinterlassen hat: ich meine die sog. λαλιά, die „Plauderei“ mäßigen Umfangs, die gleich der Diatribe und der Predigt in der Zwanglosigkeit der Disposition und Sprache ihr eigentümlichstes Gepräge empfangen hat und als Causerie noch in den modernen Literaturen fortlebt, Was bei Schriftstellern wie Clemens und Dio, wenn sie einmal sehr viel zu sagen hatten oder im Konversationston schreiben wollten, als legitimer Brauch entschuldigt wird, das sollte man gerechter Weise dem Syrer Tatian nicht als wilden Mißbrauch anrechnen. Die paar Seitensprünge, die er sich nach berühmten Mustern erlauben durfte, lassen die durchaus logische Gliederung seiner temperamentvollen Rede nur desto klarer hervortreten: aus lässiger Freiheit ist hier eine ganz originelle Kunst der Dialektik erwachsen und zu eindrucksvollster Lebendigkeit gediehen. Der orientalische Einschlag kann natürlich nicht übersehen werden, aber auch was die griechische Schule jener Zeit zu lehren vermochte, hat der fähige Mann lernbegierig in sich S. 187 aufgenommen und für seine Aufgabe mit klugem Verständnis zu nutzen gewußt.
-
Ähnliche Verwirrung der überlieferten Kapitel und Paragraphen-Einteilung bei Clemens Alexandrinus, s. Christ, Philolog. Studien zu Clem. Alex. S. 41, Anm. 8. ↩
-
Ed. Schwartz ist mir darin teilweise vorangegangen. ↩
-
Er meint die fünf Teile der Rede: exordium, narratio, confirmatio, refutatio, peroratio. ↩
-
Die solonische Verfassung in Aristoteles’ Verfassungsgeschichte Athens, Berlin 1892, S. 179. ↩
-
Antike Kunstprosa S. 90, Anm. 2. ↩
-
Vgl. unten die Anm. zu Kap. XXVII 4. ↩
-
Vgl. unten zu Kap. XXX 2. ↩
