1.
S. 340 Atticus: Sag an, Critobulus, ist es wahr, daß du, wie ich höre, folgende Behauptungen niedergeschrieben hast: “1. Der Mensch kann, wenn er will, sündlos sein; 2. Die Gebote Gottes sind leicht“?
Critobulus: In der Tat, Atticus, aber von den Gegnern werden meine Worte nicht in dem Sinne aufgefaßt, wie ich sie gemeint habe.
A. Was ist denn Zweideutiges in diesen Behauptungen, daß die Möglichkeit einer zwiefachen Auslegung besteht? Ich ersuche dich nicht, über beides zugleich Auskunft zu geben. Zwei Behauptungen hast du aufgestellt: “1. Der Mensch kann, wenn er will, sündlos sein; 2. die Gebote Gottes sind leicht“.
Wenn du sie auch auf einmal vorgebracht hast, so sollen sie doch einzeln besprochen werden, damit unter denen, deren Glaube derselbe zu sein scheint, kein Streit entstehe, wenn auch die Meinungen auseinandergehen.
C. Atticus, ich habe gesagt, der Mensch könne frei sein von Sünde, wenn er wolle, doch nicht, wie gewisse Leute unter böswilliger Verdächtigung es auffassen, ohne die göttliche Gnade — dies nur zu behaupten, wäre ja schon ein Sakrileg —, sondern er könne schlechthin handeln, wenn er wolle, selbstverständlich mit der Gnade Gottes.
A. Ist demnach auch Gott der Urheber deiner bösen Werke?
C. Keineswegs verhält es sich so, wie du vermutest. Wenn ich aber in mir etwas Gutes habe, so wird es durch göttliche Anregung und Unterstützung der Vollendung entgegengeführt.
A. Ich denke jetzt nicht an die natürliche Veranlagung, sondern an das Handeln. Denn wer zweifelt daran, daß Gott Schöpfer aller Dinge ist? Ich hätte gern Auskunft über folgende Frage: „Ist das, was du Gutes tust, dein oder Gottes Werk?“
S. 341 C. Mein Werk und Gottes Werk, und zwar in der Weise, daß ich handle, und Gott mir dabei hilft.
A. Wie aber kommt es, daß man allgemein der Ansicht ist, du scheidest die göttliche Gnade aus und setzest alles, was wir Menschen tun, auf Rechnung des freien Willens?
C. Ich wundere mich darüber, Atticus, daß du mich zur verantwortlichen Rechenschaft ziehst für den Irrtum eines Dritten und nach Dingen dich erkundigst, die sich nicht geschrieben finden, während doch ganz klar ist, was ich geschrieben habe. Ich habe behauptet, der Mensch könne sündlos sein, wenn er wolle. Habe ich etwa hinzugefügt: „Ohne die Gnade Gottes“?
A. Aber gerade, weil du es nicht hinzugefügt hast, scheinst du die Gnade zu leugnen.
C. Im Gegenteil, weil ich sie nicht geleugnet habe, muß man annehmen, daß ich dafür einstehe. Denn die Meinung darf nicht aufkommen, daß man alles das verwirft, was man unausgesprochen läßt.
A. Gibst du also zu, daß der Mensch, wenn er will, mit der Hilfe Gottes sündlos sein kann?
C. Ich gebe es nicht bloß zu, sondern trete frei und offen dafür ein.
A. Irrt also derjenige, welcher Gottes Gnade leugnet?
C. Er irrt. Ja, er verdient die Bezeichnung gottlos, da alles durch den göttlichen Willen geleitet wird, da unsere Existenz und der Besitz eines eigenen Willensvermögens ein Ausfluß der Güte des göttlichen Schöpfers sind. Daß wir nämlich die Wahlfreiheit unser eigen nennen und uns aus eigener Bestimmung sowohl dem Guten als auch dem Bösen zuwenden können, verdanken wir dem, der uns so nach seinem Bilde und Gleichnisse erschaffen hat1.
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Gen. 1, 26. ↩
