Einführung in die Seelenburg
Es war im Frühjahr 1577. Die heilige Theresia befand sich eben in Toledo. Pater Gracián O.C.D., damals Apostolischer Kommissar und damit auch der Obere der Karmeliten, unterhält sich mit der heiligen Mutter im Sprechzimmer der Karmelitinnen von Toledo über Fragen des geistlichen Lebens. Die Heilige weist bei dieser Gelegenheit darauf hin, daß sie über diesen und jenen Punkt schon ausführlich in ihrer Autobiographie geschrieben habe. Wohl, meinte darauf Pater Gracián; doch da jenes Buch (das »Leben«) von der spanischen Inquisition zurückgehalten werde und infolgedessen nicht gelesen werden könne, werde es gut sein, wenn sie über diese Dinge ein neues Buch schriebe, ohne darin sich selbst zu nennen.
Die Heilige wehrte sich gegen dieses Ansinnen und meinte: »Warum soll ich über so erhabene Dinge schreiben? Das ist Sache der Theologen; sie haben darüber Studien gemacht. Es gibt ohnehin schon so viele Bücher, die sich mit diesen Fragen beschäftigen. Ich bin dazu völlig ungeeignet usw.«
Doch Pater Gracián bestand auf seinem Wunsch und wies den Einwand, daß darüber gelehrte Theologen schreiben sollten, zurück mit dem Hinweis, daß sie, die Heilige, auf diesem Gebiet besondere Erfahrung habe, und daß darum das, was sie aus eigener Erfahrung darüber sagen könne, weit nützlicher sei und besser verstanden werde, als was gelehrte Doktoren aus Büchern zusammentragen.
Als bald darnach auch Dr. Velásquez Domherr von Toledo und damals Beichtvater der Heiligen, dem Theresia das Ansinnen bzw. den Auftrag des Paters Gracián unterbreitete, diesen Auftrag unterstützte, beugte sich die Heilige dem höheren Willen ihrer Oberen; und obwohl an Jahren schon weit vorgerückt — sie zählte damals 62 Jahre —, von Krankheiten geschwächt und von Arbeiten aller Art überhäuft, machte sie sich daran, den ihr gegebenen Auftrag auszuführen.
Dies der Anstoß zum Buche: Die »Seelenburg«.
Als nun die Heilige am Vorabend des Festes der Heiligsten Dreifaltigkeit darüber nachsann, was sie zum Gegenstand ihrer Schrift nehmen sollte, da gab ihr Gott selbst den Fingerzeig dazu. In einer wunderbaren Vision ließ er seine treue Dienerin folgendes schauen: Etwas wie eine Burg, aus leuchtendem Kristall aufgebaut, erhob sich vor ihren staunenden Augen. In dieser Burg waren deutlich verschiedene Abteilungen oder Wohnungen zu erkennen. In der innersten dieser Wohnungen thronte der König der ewigen Herrlichkeit, dessen strahlender Glanz die Wohnungen dieser Burg durchdrang und ihnen unsagbare Schönheit verlieh. Dieses himmlische Leuchten war aber nur im Inneren der Burg zu gewahren; außerhalb derselben war alles in Dunkel gehüllt, voll Schmutz und Natterngezücht und giftigem Gewürm. Darin erkannte die Heilige die Schönheit einer Seele, die im Stande der Gnade ist. Gleich darauf änderte sich das Bild: Das Licht verschwand, und ohne daß der Herr der Glorie die Wohnung verließ, verdunkelte sich der Kristallpalast und ward schwarz und unsagbar häßlich; und das Natterngezücht und das Gewürm, daß zuerst außerhalb der Burg war, kroch ins Innere derselben. Dieses zweite Bild faßte Theresia auf als ein Sinnbild von der Häßlichkeit der Seele im Stande der Sünde.
Das Geschaute nahm nun Theresia zur Grundlage für ihre Schrift, zu deren Abfassung sie gleich am folgenden Tage, dem Feste der Heiligsten Dreifaltigkeit, 2. Juni 1577, in Toledo schritt, und die sie nach einer Unterbrechung von mehreren Monaten — sie siedelte im Juli des gleichen Jahres in das Josephskloster nach Ávila über und konnte sie erst im Oktober wieder fortsetzen — am 29. November 1577 in Ávila vollendete. Sie betitelte diese Schrift: »Castillo Interior« (»Innere Burg« oder, wie es gewöhnlich im Deutschen wiedergegeben wird, »Seelenburg«) oder auch »Moradas« (Wohnungen).
Wir brauchen uns nicht darüber zu wundern, daß Theresia in so kurzer Zeit das äußerst schwierige und heikle Thema, das in der »Seelenburg« behandelt wird, so meisterhaft und restlos löste. Abgesehen von ihrer reichen Erfahrung auf dem Gebiete des mystischen Erlebens, offenbart sich darin auch wieder ihr großes Genie. Und außerdem lag der Inhalt bzw. der Grundbau dieses Werkes schon seit vielen Jahren im Bereich ihres Gedankengutes. Schon in frühen Jahren, erzählt sie uns selbst, hat auf sie eine Stelle des Evangeliums, nämlich die Worte: »Intravit Jesus in quoddam castellum«, einen besonderen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht. Und als sie später (um 1556) sich mit der Lektüre des damals in geistlichen Kreisen geschätzten Werkes des Franziskaners Bernardin de Laredo: Subida al Monte Sion beschäftigte und darin unter anderem las, daß die Wohnung Gottes in der Seele des Gerechten gleich sei einer festen Burg, aus Diamanten und Edelsteinen erbaut, da hatte dieses Bild vom Wohnen Gottes in der Seele wie in einer Burg in der Phantasie Theresias schon greifbare Gestalt angenommen. Bereichert und ausgeschmückt mögen diese Vorstellungen noch geworden sein durch die Überreste und Erinnerungen aus ihrer jugendlichen Beschäftigung mit Romanlektüre von Ritterkämpfen und Ritterburgen. Und so fließt das romantische und mystische Element in diesen Vorstellungen in eins zusammen. Dazu kam, daß sie um das Jahr 1565 eine Vision hatte, in der sie die Seele in Form eines Spiegels schaute, der nach allen Seiten wie eine Lichtkugel sein Licht ausstrahlte, und im Mittelpunkt derselben Christus, thronend in herrlichem Glanze. So berichtet die Heilige selbst in ihrem »Leben«. Und wiederum schreibt sie im »Weg der Vollkommenheit« (Kap. III.), also gleichfalls um 1565, von dem König, der sich in die Festung zurückzieht, während die Feinde ins Land eindringen. Im 29. Kapitel des gleichen Werkes führt sie diesen Gedanken noch weiter aus, wenn sie die Seele als Wohnung Gottes mit einer Burg vergleicht, die aus lauterem Gold und kostbaren Edelsteinen erbaut ist und darum wahrhaft würdig des großen Königs, dem sie zu eigen. Ausdrücklich fügt sie hier noch bei: »Dieser Palast, diese Burg ist euere Seele; wenn die Seele rein und mit Tugenden geschmückt ist, so gibt es keinen auch noch so herrlichen Palast, der mit ihr verglichen werden könnte … Und darin wohnt der König der Herrlichkeit.« — Im Jahre 1572 nimmt die Heilige wiederum diesen Gedanken auf, wenn sie in den »Rufen der Seele« (XVI) von dieser Festung spricht und von dem, der sie bewohnt. Eine weitere Anspielung auf diesen Gedanken finden wir schließlich um das Jahr 1577, kurz vor Abfassung der »Seelenburg«, wenn sie in einem Liede singt: »Eres mi casa y morada!« (»Meine Burg bist du und mein Gezelt!«)
Die Idee also, die diese wunderbare Schrift, die »Seelenburg«, durchdringt und trägt, ist schon lange vorher in ihrer Seele lebendig gewesen. Darum ist auch die »Seelenburg« nicht ein künstlich aufgebautes Gebilde, wie so manche ähnliche Werke über das übernatürliche Seelenleben, sondern ist von Anfang bis zum Ende erlebt, ist aus ureigenem seelischen Erleben herausgewachsen.
Das Bild von der Burg mit den verschiedenen Abteilungen oder Wohnungen bildet das alle Teile dieser Schrift einigende und umschlingende Band und ist für die heilige Verfasserin der Ausgangspunkt zu ihrer Abhandlung über das höhere Gnadenleben. In ihr sehen wir die Seele stufenweise die einzelnen Wohnungen durchschreiten und sich wandeln von einer unvollkommenen, ja sündigen Seele, wie sie anfangs ist, zur auserlesenen Braut des Herrn, die, mit dem Geschmeide ihrer Tugenden geziert, das Auge des göttlichen Bräutigams entzückt, der mit ihr, im Innersten dieser Wohnung weilend, die mystische Vermählung vollzieht. Und der Schlüssel zu dieser Burg und zu den einzelnen Wohnungen ist das Gebet, dessen verschiedene Stufen, Eigenschaften und Wirkungen die Heilige im Verlauf der Schrift in einzigartiger Weise schildert, mit einer geradezu bezaubernden Schönheit von Bildern und Vergleichen und mit einer Gedankentiefe, wie sie eben nur der heiligen Theresia zu eigen ist und vergeblich bei anderen mystischen Schriftstellern gesucht wird.
Die Einteilung der »Seelenburg« in sieben ungleich große Abschnitte entsprechend den sieben Wohnungen der Burg, hat wiederum zur Grundlage die sieben Stufen des Gebetes, welche die Seele durchwandeln muß, um zum inneren Gemach der Burg zu gelangen. Das Ganze zerfällt, wie im »Weg der Vollkommenheit«, in zwei größere Teile, deren einer die aktiven Wege der Seele, d. i. das aktive oder diskursive Gebet (1. bis 3. Wohnung), der andere die passiven Wege oder das beschauliche Gebet (4. bis 7. Wohnung) behandelt.
Der große Wert dieser Schrift liegt darin, daß die heilige Verfasserin in erhabenerem Schwung der Ideen und zugleich mit größerer Klarheit und Genauigkeit als in ihren anderen Werken in ihr das Wesen und die Wirkungen des gewöhnlichen und übernatürlichen Gebetes mit seinem Gefolge von göttlichen Gaben und Tugenden und außerordentlichen Gnadenerscheinungen aufzeigt. Hat sie es doch geschrieben, als sie Dank der göttlichen Gnadenerweise viel reichere Erfahrungen auf dem Gebiete des übernatürlichen Seelenlebens gesammelt hatte und auch das Material der Darstellung mit größerer Meisterschaft beherrschte. Darum dürfte gerade die »Seelenburg« wohl unter allen Werken, die zu dieser Frage erschienen sind, das wertvollste und wichtigste sein. Und es ist infolgedessen auch, wie ein bedeutender zeitgenössischer Mystiker, Pater Arintero O. Pr., eingesteht, für alle späteren Autoren auf diesem Gebiet zur Norm und Grundlage geworden; denn Theresia hat es verstanden, in das Chaos der Anschauungen und Begriffe vom übernatürlichen Seelenleben durch ihre klare Sprache wundervolle Ordnung zu bringen.
Über das Schicksal dieser unschätzbaren Handschrift, die gegenwärtig im Karmelitinnenkloster von Sevilla aufbewahrt wird, wissen wir, daß die Heilige sie dem Pater Hieronymus Gracián zur Aufbewahrung übergab, um sie vor dem Zugriff der Inquisition zu retten. Von Pater Gracián ging sie in die Hände der Schwester Maria vom heiligen Joseph, Priorin von Sevilla, über; und die Schwestern von Sevilla waren von da an, mit Ausnahme weniger Jahre, die treuen Hüterinnen dieses kostbaren Schatzes. 1587 wurde die Handschrift der ehrwürdigen Schwester Anna von Jesus übergeben, die damals die Schriften der heiligen Mutter für Pater Ludwig de León O.S.A. sammelte, der die erste Gesamtausgabe derselben vorbereitete. Nach Vorbereitung dieser Ausgabe schenkte Pater Gracián die Handschrift einem gewissen Don Pedro Cerezo Pardo, einem der größten Wohltäter der karmelitanischen Reform. Als im Jahre 1617 dessen Tochter Katharina im Kloster der Karmelitinnen von Sevilla den Schleier nahm, brachte sie außer einer reichen Mitgift auch die Handschrift der »Seelenburg« als köstliche Morgengabe mit, wo sie dann auf Kosten einer anderen eintretenden Novizin, Doña Johnna de Mendoza, Tochter des Herzogs von Béjar, den ihrem inneren Wert gebührenden Einband: Beleg mit silbergetriebenen Platten mit vergoldetem Schmuck und Emailverzierungen, erhielt.
Im Druck erschien die »Seelenburg« zum erstenmal in Salamanka 1588 in der schon erwähnten Gesamtausgabe der Schriften der Heiligen Theresia durch Ludwig de León, die dann schon im Laufe der folgenden Jahre wiederholt aufgelegt wurde (siehe dazu unsere Einleitung im I. Band, S. 19). eine besonders wertvolle Einzelausgabe der »Seelenburg« ward im Jahre 1882, anläßlich der dritten Zentenarfeier des Todestages der Heiligen, durch Kardinal Joachim Lluch O. Carm., Erzbischof von Sevilla, bewerkstelligt.
Pater Ambrosius a. S. Theresia, O. C. D. (Rom).
