Literarische Form und Zweck des Dialoges.
Der Dialog Justins gibt sich als eine zwei Tage dauernde Unterredung mit dem Juden Tryphon aus, welche, wie die Einleitung erzählt, gegen Ende des Barkochba-Krieges, d. i. im Jahre 135, in Ephesus stattgefunden hat. Dem Leser zeigt sich aber sofort, daß nicht alles was der Schriftsteller hier berichtet, wortgetreue Wiedergabe eines Gespräches sein kann, das einst wirklich gehalten worden war. Schon die langen Schriftzitate sprechen dagegen. Das Gespräch ist auf jeden Fall zum Teil nur literarische Form. Wir haben es hier mit Dichtung und Wahrheit zu tun, welche allerdings schwer abzugrenzen sind.Ist überhaupt Tryphon, mit welchem Justin disputiert, als geschichtliche Persönlichkeit anzusehen? Nach Eusebius 1 war er einer der angesehensten Hebräer der damaligen Zeit. Damit ist offenbar auf den in der Mischna häufig erwähnten palästinensischen Rabbi Tarphon, einen Zeitgenossen Justins 2, hingewiesen. S. a12 Auch hatte Justin wohl beabsichtigt, diesen bekannten jüdischen Gesetzeslehrer in seinem Werke auftreten und sprechen zu lassen. Allein gleichwohl kann der Tryphon des Dialoges nicht der bekannte gelehrte und fanatische Jude gewesen sein. Zwar wird jener am Anfang des Dialoges als „Hebräer aus der Beschneidung“ eingeführt, der bis vor kurzem in Palästina gelebt hat und nun wegen der kriegerischen Unruhen aus der Heimat geflohen ist, aber seine Worte lassen ihn mehrfach als hellenistischen Juden erkennen. Dafür haben wir ihn auch deshalb zu halten, weil seine Freunde Proselyten sind 3, von welchen einer, der ausdrücklich mit Namen genannt wird, den griechischen Namen Mnaseas trägt 4. Tryphon, so wie er im Dialoge auftritt und spricht, ist darum nur als fingierte Person anzusehen, für welche der berühmte Jude seinen Namen hergeben mußte 5.
Man wird behaupten dürfen: Justin hatte zur Zeit des Barkochba-Krieges in Ephesus mit einem Juden, vielleicht mit dem bekannten jüdischen Gesetzeseiferer Tarphon selbst, eine Disputation über die Bedeutung des alttestamentlichen Bundesvolkes und über die Frage, ob Jesus der verheißene Messias sei. Diese Disputation wurde Anlaß zu dem erst zwanzig Jahre später von ihm verfaßten Dialoge. Derselbe enthält zwar manche Gedanken und Bemerkungen aus jener Unterredung, doch sind dieselben in freier Weise erweitert durch Lehren und Erörterungen, welche als das Resultat eines vertieften Schriftstudiums und wiederholter gelehrter Aussprachen mit hellenistischen Juden 6 anzusehen sind. S. a13
Was der Schriftsteller in den ersten Kapiteln des Dialoges über seine Bekehrung erzählt, ist für Geschichte zu erklären, die allerdings in kunstvolle Form gekleidet ist 7. Es steht nichts im Wege, hier historische Wahrheit zu erkennen.
Der Dialog, so wie er uns vorliegt, ist literarische Form. Justin ist einer der ersten, welcher aus der antiken Literatur diese Form entlehnt und sie für die Zwecke des Christentums benützt hat 8. Auf dem Gebiete der griechisch-christlichen Literatur hat er nur einen Vorgänger, den nicht näher bekannten Ariston von Pella, dessen Dialog „Disput über Christus zwischen Jason (Christ) und Papiskus (Jude)“ bis auf unbedeutende Fragmente verloren gegangen ist h9. Daß in Verwendung der dialogischen Form der ehemalige heidnisch-griechische Philosoph Justin Vorbilder nachgeahmt hat, wie sie in der alten griechischen philosophischen Literatur so zahlreich waren, ist selbstverständlich. Aber es sind doch vielleicht auch die dialogisch verfaßte alttestamentliche Schrift, das Buch Job, und vor allem jüdische Schulgespräche von Einfluß gewesen. Denn Justin zeigt sich sehr belesen in der Schrift desAlten Testamentes, welche er weit über die heidnische philosophische Literatur stellt; auch ist er mit der außerbiblischen jüdischen Tradition sehr gut vertraut 10.
In die literarische Kunstform des Dialoges hat Justin apologetisch-polemische Abhandlungen, welche sich vor allem gegen das Judentum seiner Zeit richten, gekleidet.
S. a14 Tryphon, sein Gegner, behauptet, die Christen verlassen Gott und setzen ihre Hoffnung nur auf einen Menschen. Er lehrt, daß Christus, selbst wenn er bereits geboren wäre, doch erst dann erkannt werden könnte, wenn Elias ihn gesalbt und aller Welt kundgemacht hat. Unbegreiflich ist ihm, daß Christus stirbt, und daß er wie Gott, der Weltschöpfer, ebenfalls Gott sein soll. Da Justin behauptet, Christus stehe als Geschöpf Gottes unter dem Weltschöpfer, so meint Tryphon, es läge nichts daran, nur den letzteren zu verehren und anzubeten. Unbegreiflich ist ihm auch, daß die Christen wohl gerne leiden, sich aber sträuben, dem Gesetze des Moses zu gehorchen. Er nimmt daran Anstoß, daß die Christen, obwohl sie gottesfürchtig sein wollen und an eine Bevorzugung vor der Mitwelt glauben, sich dennoch von dieser in keiner Weise zurückziehen und nicht von den Heiden getrennt leben. Den Christen wird der Vorwurf gemacht, daß sie wie die Heiden an Märchen ihre Freude hätten; ja die Christen seien in mancher Beziehung noch schlimmer wie die Heiden. Allerdings anerkennt er auch manches Gute am Christentum und glaubt nicht allen Verleumdungen, welche die Lüge aus Christenhaß erfunden hat. „Ich weiß“, sagt er, „daß eure Lehren, die im sogenannten Evangelium stehen, so erhaben und groß sind, daß, wie ich glaube, kein Mensch sie beobachten kann; mit Interesse habe ich nämlich dieselben gelesen“ 11.
Justin wirft den Juden ihre Sünden vor. Er nennt sie ein hartherziges, streitsüchtiges, unvernünftiges, blindes, lahmes und seelenkrankes Volk. „Lehren der Bitterkeit und Gottlosigkeit trinken sie miteinander, das Wort Gottes aber spucken sie aus“ 12. Besonders tadelt er ihre Unbußfertigkeit und Gehässigkeit. „Nicht einmal“, schreibt er, „nach der Eroberung eurer Stadt und der Verwüstung eures Landes tut ihr Buße, sondern erkühnt euch, Jesus und alle seine Gläubigen zu verfluchen. Wir aber hassen weder euch noch diejenigen, welche euretwegen solche Behauptungen gegen uns S. a15 ausgestreut haben; wir beten vielmehr, daß ihr euch alle wenigstens jetzt bekehret und bei Gott, dem wohlwollenden und erbarmungsreichen Vater aller, Barmherzigkeit findet“ 13. Justin behauptet, die Juden seien schlimmer als die übrigen Völker, weil sie nicht nur für ihre eigenen Sünden, sondern für die Ungerechtigkeit der Menschheit überhaupt verantwortlich seien. Wiederholt zeigt er ihnen, daß sie die alttestamentlichen Offenbarungen nicht recht kennen und nicht verstehen, und daß sie in ihrer fleischlichen Auffassung das Zeremonialgesetz überschätzen. Irregeführt von ihren Lehrern, übergehen sie in der Schrift die Hauptgedanken und halten sich an das Nebensächliche. Wenn sie nicht gleich den Propheten entschlossen sind, zu leiden, können sie aus den Prophetenworten keinen Nutzen ziehen. Justin belehrt die Juden ausführlich: Jesus ist wahrer Gott und wahrer Mensch, er ist der göttliche Messias, durch welchen der ewige Bund mit Gott, dem Vater, geschlossen wird. Mehrmals wird betont, daß man zwischen einer ersten und zweiten Parusie Christi zu unterscheiden habe, und daß Christus erst bei der zweiten in Herrlichkeit erscheinen werde. Zur Bekräftigung seiner Lehren beruft sich der Apologet immer und immer wieder auf die Hl. Schrift, wiederholt aber verweist er zu diesem Zwecke auch auf die Tatsachen der Geschichte, zumal da Tryphon meint, die Prophetenworte hätten wegen ihrer Zweideutigkeit nicht immer Beweiskraft. Größtenteils werden alttestamentliche Schriften zu Rate gezogen, doch auch die Schriften des Neuen Testamentes kommen, trotzdem die Gegner Juden sind, nicht selten zu Wort und werden namentlich dann zitiert, wenn es sich um geschichtliche Tatsachen aus dem Leben und Leiden Jesu handelt.
Wenngleich Justin sich die Aufgabe gestellt hat, die Wahrheit und Erhabenheit der christlichen Lehre gegenüber jüdischer Verblendung und Anmaßung zu verteidigen, so dürfen wir doch den Leserkreis, für welchen er den Dialog bestimmt hat, nicht ausschließlich im jüdischen Volke suchen. Er hat auch für die S. a16 bekehrte und nichtbekehrte Heidenwelt geschrieben. Denn schon der Adressat, dem die ganze Schrift gewidmet ist, scheint - nach dem Namen Markus Pompeius zu schließen - kein Jude gewesen zu sein. Auch dürfte der ganze Prolog, der die Bekehrungsgeschichte Justins enthält, wegen der Kritik über die Schwächen der verschiedenen heidnischen philosophischen Systeme besonders für Leser aus der Heidenwelt berechnet gewesen sein. Ihnen gilt die Erklärung, daß die Propheten höher stehen als Männer wie Plato und Pythagoras. Ausdrücklich wendet sich Justin an sie in 29,1 durch die Aufforderung: „Ihr Heiden, lasset uns zusammenkommen und Gott verherrlichen, denn auf uns hat er geschaut!“ Eine ausführliche Besprechung jüdischer Anschauungen und jüdischer Verhältnisse konnte auch nicht ohne Interesse für heidnische Leser gewesen sein. Juden waren es ja gerade, wie wir wiederholt im Dialoge lesen, welche vor der Heidenwelt als Kläger gegen das Christentum aufgetreten sind und es verleumdet haben. Aus dem Dialog erfährt nun der Heide, wer der jüdische Kläger ist, und was er von ihm und seinen Beschuldigungen zu halten hat.
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Kirchengesch. IV 18,6. ↩
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Über Rabbi Tarphon vgl. Schürer, „Geschichte d. jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi“ II. (4) (1907) S. 444 f. – Bezüglich der Wahrscheinlichkeit der Identität von Tryphon und Tarphon (טרפון bzw. טרפון) vgl. Zahn, a.a.O. S. 52 ff. Nach M.J. Lagrange, „Le Messianisme chez les juifs“ (Paris 1909) S. 299 Anm. 1 findet sich die Form טריפון auf dem Epitaph eines gewissen Rabbi Jurdan ben Triphon (im Museum v. Ustinow’s in Jaffa). ↩
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Vgl. 23,3; 24,3 usw. ↩
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85,6. ↩
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Vgl. Bardenhewer, Geschichte der altkirchl. Literatur I 82) 81913) S. 229. ↩
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Vgl. 50,1. ↩
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Vgl. dagegen A.H. Goldfahn, Justin Martyr und die Agada; Monatsschrift f. Geschichte und Wissenschaft des Judentums Bd. 22 (1873) S. 52 f. ↩
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Vgl. O. Zöckler, „Der Dialog im Dienste der .Apologetik“ (Gütersloh 1893); Rud. Hirzel, „Der Dialog“ (Leipzig 1895) II S. 396 ff.; H. Jordan. „Geschichte der altchristlichen Literatur“ (Leipzig 1911) S. 242 ff. ↩
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Die aus dem 5. Jahrh. stammende Schrift „Altercatio Simonie et Theophili“ ist nach Harnack nichts anderes als eine nur wenig modifizierte Kopie der in den Zeiten Hadrians verfaßten „Altercatio Jasonis et Papisci“. ↩
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Vgl. Goldfahn, „Justin Martyr und die Agada“. ↩
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10,2. ↩
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120,2. ↩
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108,3. ↩
