4.
Nachdem die Seele von der Betrachtung des Geistigen abgekommen war und die einzelnen Kräfte des Körpers mißbraucht, an der Betrachtung des Leibes sich ergötzt und in der Lust ein Gut für sich gefunden hatte, mißbrauchte sie in ihrem Wahne das Wort 'Gut' und glaubte, die Lust sei das wahre Gut selbst, — ähnlich einem geistig Verrückten, der ein Schwert verlangte wider die, die ihm begegnen, und dabei meinte, weise zu handeln. Die Lust aber einmal liebgewonnen, begann die Seele, sie auf mannigfache Weise zu erregen. Denn von Natur sehr beweglich, treibt sie nach ihrer Abkehr vom Guten immer weiter. Sie bewegt sich nun zwar nicht mehr in der Richtung der Tugend und so, daß sie S. 536 Gott schaute, sondern sie hängt am Nichtseienden, gibt ihrer Fähigkeit eine andere Richtung und mißbraucht sie zu Lüsten, die sie ersonnen, da sie ja freigeboren ist. Sie kann wie dem Guten zustimmen, so auch vom Guten sich abkehren. Wendet sie sich aber vom Guten ab, dann denkt sie notwendig an seine Kehrseite. Denn sie kann nicht zu absoluter Ruhe kommen, weil sie, wie vorhin bemerkt, von Natur sehr beweglich ist. Und im Bewußtsein ihrer Freiheit erkennt sie, daß sie die Glieder des Leibes in zweifacher Richtung gebrauchen kann, für das Seiende sowohl wie für das Nichtseiende. Das Seiende ist aber das Gute, das Nichtseiende das Böse. Wesenhaft aber nenne ich das Gute, sofern es sein(e) Urbild(er) im wahrhaft seienden Gott findet. Nichtseiend aber nenne ich das Böse, weil es, ohne wirklich zu sein, nur menschlichem Sinnen entsprungen ist. Denn obschon der Körper Augen hat, um die Schöpfung zu sehen, aus ihrer vollen Harmonie den Schöpfer zu erkennen, obschon er auch ein Gehör hat, um die göttlichen Offenbarungen und die Gebote Gottes zu vernehmen, obschon er auch Hände hat, um die notwendige Arbeit zu leisten und beim Gebet sie zu Gott zu erheben, so kehrte sich die Seele doch ab von der Betrachtung des Guten und dem Leben in ihm und treibt jetzt in ihrem Wahne in entgegengesetzter Richtung. Denn als sie ihrer Fähigkeit, wie schon gesagt, inne wurde und sie dann auch mißbrauchte, kam sie darauf, daß sie die Glieder des Leibes auch in entgegengesetzter Richtung bewegen könnte. Und deshalb wendet sie das Auge, anstatt auf die Schöpfung zu schauen, auf Begierden und zeigt so, daß sie auch hierzu imstande ist, wobei sie glaubt, ihre Würde zu bewahren, wenn sie nur einmal tätig sei, und nicht zu sündigen, wenn sie tue, was sie könne. Und sie begreift nicht, daß sie nicht zur Bewegung überhaupt, sondern zu zweckmäßigem Leben erschaffen ist. Deshalb mahnt ja auch die Stimme des Apostels: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles nützt“1.
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1 Kor. 6, 12. ↩
