2. Eigenart und Echtheit
Die exegetische und homiletische Eigenart des hl. Johannes Chrysostomus spiegelt sich in dem Kommentare so unverkennbar wider, daß er aus diesem inneren Grunde allein als unzweifelhaft echt angesprochen werden darf. Als Exeget war Chrysostomus ein Vertreter der antiochenischen Schule, die im Gegensatz zur alexandrinischen bei der Schrifterklärung ihre Hauptaufgabe darin erblickte, den Wortsinn festzustellen, während die Alexandriner in der Schrift in erster Linie den allegorischen Sinn suchten. An zahlreichen Stellen geht Chrysostomus in der Zergliederung einzelner Worte soweit, daß seine Rede mehr den Ton der Schule als den der Kanzel annimmt.
Nüchtern wie in der Exegese bleibt Chrysostomus auch in der dogmatischen Spekulation, ja hier grenzt seine Sparsamkeit schon fast an Mangel. Die großen dogmatischen Probleme, die der Römerbrief anschneidet, können ihn nicht veranlassen, sich tiefer mit ihnen zu beschäftigen, so daß wir uns oft geradezu enttäuscht fühlen in der Erwartung, etwas Entscheidendes von ihm über jene Fragen zu hören. Dafür entschädigt er uns aber reichlich durch die homiletische Ausmünzung seines Stoffes. Kaum entgeht ihm etwas, was eine Anwendung S. 9 auf das christliche Leben seiner Zuhörer zuließe, ungenützt. Mit apostolischem Eifer, der aber auch die psychologisch wirksamste Aneinanderreihung der Argumente nicht übersieht und rhetorische Kunstmittel nicht verschmäht, dringt er stets auf die sittliche Besserung seiner Zuhörer. Dabei läßt er sich von seinem Eifer manchmal etwas zu lange bei der Strafrede gegen die Laster festhalten und zu Ausdrücken und Vergleichen hinreißen, die unser feinfühliges Empfinden überraschen. Ein Redner und Menschenkenner wie er hat aber jedenfalls wohl abgewogen, wie weit er mit Rücksicht auf die sittliche und ästhetische Eigenart seiner Zuhörerschaft gehen durfte. Echt chrysostomische Art ist auch die Häufigkeit von Vergleichen und Bildern, die diese Homilien auszeichnet. In ihrer sinnenfälligen Darstellung und praktischen Tendenz sind sie vielfach auch für den heutigen Prediger mustergültig und des Studiums wert; weniger nachahmenswert ist des großen Redners μακρολογία — manche seiner Homilien würden wohl zwei Stunden zum Vortrag in Anspruch nehmen — und seine ἀκρίβεια in der Untersuchung des Schrifttextes, die eine mit dem Wortlaut der Hl. Schrift sehr vertraute Zuhörerschaft voraussetzt. Der an Chrysostomus oft bewunderte Attizismus der Sprache zeichnet die Homilien zum Römerbrief hervorragend aus und läßt sie auch stilistisch als echte Geisteskinder des größten Redners der Ostkirche erscheinen.
Sprechen somit unabweisbare innere Gründe für die Echtheit dieser Chrysostomus-Homilien, so fehlt es auch nicht ganz an äußerer Bezeugung. Der Hauptzeuge ist Augustinus, der im ersten Buch seiner Streitschrift gegen den Pelagianer Julian (1, 27) zahlreiche Stellen aus der elften (zehnten) Homilie zum Beweis dafür anführt, daß Chrysostomus über die Erbsünde keineswegs pelagianisch gedacht habe. Isidor von Pelusium (ca. 370–440) kennt ebenfalls die Homilien des Chrysostomus zum Römerbrief und rühmt ihnen ein Verständnis für den paulinischen Text und eine Eleganz der Sprache nach, daß Paulus selbst, wie er meint, sich nicht besser hätte kommentieren können (Epist lib. V 32. Migne, P. gr. LXXVIII 1348).
