VI.
Aber wie kann ich, sagst du, mich der Trauer erwehren und Mensch bleiben? Wenn du bedenkst, wie weder der Patriarch gewehklagt hat noch Job; und sie waren doch auch Menschen; und sie lebten vor dem Gesetze und vor der Gnade und den großen Lehren der Weisheit, die aus diesen Quellen fließen. Wenn du ferner beherzigst, wie dein Kind in ein besseres Land gegangen und zu einem edleren Loose sich aufgeschwungen, wie du den Sohn nicht verloren, sondern an sicherer Stätte geborgen hast. Sage darum nicht: Jetzt heiß’ ich nimmer Vater. Warum denn nimmer Vater, wenn dein Sohn lebt? Du hast ja dein Kind nicht verloren, den Sohn nicht eingebüßt. Eher hast du ihn bekommen, und um so sicherer gehört er dir an. Vater heissest du nicht mehr bloß auf Erden, sondern auch im Himmel. Den Namen Vater hast du nicht verloren, sondern in höherem Grade gewonnen. Denn Vater wirst du fernerhin genannt werden nicht eines sterblichen, sondern eines unsterblichen Sohnes, eines edlen Kämpfers, der für immer vor dem Könige steht. Und wähne nicht, der Sohn sei für dich verloren, weil du ihn nicht mehr siehst! Denn wäre er etwa in ein fremdes Land gegangen, so hätte ja auch die leibliche Trennung die Bande des Blutes nicht zerrissen. Schaue darum nicht auf’s erstorbene Antlitz, sonst wird neu der Schmerz; sondern von der todten Hülle erhebe zum Himmel deine Gedanken. Nicht dieser entseelte Leib ist dein Sohn, sondern Der, welcher wie mit Flügeln sich emporgeschwungen hat zu unermeß- S. 24 licher Höhe. Und wenn du das erloschene Auge siehst und den entstellten Mund und den regungslosen Leib, so denke nicht bei dir selbst: Jetzt redet nimmer dieser Mund, nimmer schauen diese Augen, nimmer wandeln diese Füße; Alles verfällt rasch der Auflösung. Sage lieber: Dieser Mund wird besser reden, diese Augen Größeres schauen, diese Füße über Wolken schreiten, der verwesliche Leib wird mit Unsterblichkeit sich umkleiden, und herrlicher bekomme ich den Sohn wieder. Und wenn Das, was das Auge schaut, dich zur Trauer stimmt, so sprich zu dir selbst: Ein Gewand ist es, das er abgelegt hat, um es kostbarer zurückzuerhalten; ein Haus ist es, das abgebrochen wurde, um glänzender wieder zu erstehen. Es ist, wie wenn wir ein Haus abbrechen wollen. Da lassen wir die Inwohner auf einige Zeit ausziehen, damit Staub und Lärm ihnen nicht lästig werde. Ist aber das Gebäude wieder fest hergestellt, so führen wir sie zuversichtlich zurück. Ebenso hat Gott das gebrechliche Zelt niedergelegt und für diese Zeit den Sohn zu sich in’s väterliche Haus genommen; er wird die abgebrochene Hütte einst wieder aufrichten und prachtvoller zurückgeben. Sage darum nicht: Jetzt ist es aus mit dem Sohne für immer! So mögen Ungläubige reden. Du sollst also sprechen: Er schläft und steht einst wieder auf, er ist in ein fernes Land gegangen und kehrt einst wieder mit dem himmlischen Könige. Und wer sagt uns Das? Der, aus dessen Munde Christus spricht. Dieser sagt: „Wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und wieder auferstanden ist zum Leben, ebenso wird Gott auch die Entschlafenen durch Jesus herbeiführen mit ihm.“1 Wenn du darum den Sohn suchst, so suche ihn dort, wo der König, wo die Schaaren der Engel; nicht im Grabe, nicht auf Erden; du möchtest sonst, während der Sohn so hoch erhoben ist, dich hinschleppen auf der niedrigen Erde. —
S. 254 Wenn nun das unsere Gedanken sind, so werden wir leicht über jeden derartigen Schmerz hinwegkommen. Der Vater der Erbarmungen aber und der Gott alles Trostes wird trösten unser aller Herzen, Derer, die von solcher Trauer, und Derer, die von anderem Kummer gebeugt werden. Er möge uns gewähren, frei von allem Kleinmuth geistige Freude zu genießen und einst der himmlischen Seligkeit theilhaftig zu werden, zu welcher wir alle gelangen mögen durch die Gnade und Güte unseres Herrn Jesus Christus, mit welchem dem Vater zugleich mit dem heiligen Geiste Ruhm, Macht und Ehre jetzt und immer und für ewige Zeiten. Amen.
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Thess. 4, 14. ↩
