§ 4. Das Bild Augustins in den abendländischen Kirchen und die „Vita“.
ln der römisch-katholischen Kirche werden alle die Züge Augustins in den Vordergrund geschoben, in denen er als der große und grundlegende Zeuge des heutigen Katholizismus erscheint — seine Lehre von der Kirche, den Sakramenten und seine Gnaden- und Heilslehre im engsten Zusammenhang mit seiner Ethik. Im Protestantismus wird alles Gewicht auf seinen Antipelagianismus, seine Lehre vom Geist und vom Wort Gottes und seine Gnaden- und Prädestinationslehre gelegt. Vergleicht man mit beiden Bildern die Zeichnung, welche Possidius entworfen hat, so erstaunt man über den Abstand, zumal vom protestantischen Bilde. Und doch ist keines der drei Bilder unrichtig, sondern sie verhalten sich zueinander wie die Porträte dreier Künstler, die einen von ihnen verehrten Mann wiedergegeben haben: sie haben ihn gezeichnet, wie sie ihn sahen, zugleich aber auch, wie sie ihn zu sehen begehrten. Bei Possidius kommt noch das Besondere hinzu, daß er, seinen Fähigkeiten entsprechend, nicht tiefer eindringen konnte als in die tatsächliche Erscheinung des Bischofs und Mönchs, daß er mit seiner Darstellung erst in der Mitte des Lebens Augustins einsetzt und daß er (s. o.) für Augustins Lehre von der Sünde und Schuld ein geringeres Verständnis besessen hat (s. o.).1 Aber auch wenn man das alles in Anschlag bringt, S. 21 bleibt in dem Bilde, das Possidius gezeichnet hat, ein Hauptzug bestehen, der durch keine Erwägungen in bezug auf die Fähigkeiten und die besonderen Schranken und die besonderen Absichten dieses Autors verwischt oder abgeschwächt werden kann. Das ist die besonnene Klugheit und das Maßhalten Augustins in allen Situationen und Fragen des konkreten Lebens und speziell auch als Gemeinde- und Seelenleiter („Medium tenebat neque in dexteram neque in sinistram declinans“ c. 22, 41).2 Was fast überall in bezug auf die Würdigung prophetischer Männer gilt, daß man die Art und die ganze Breite ihrer praktischen Betätigung nicht einfach nach ihrer Lehre bestimmen darf, das gilt auch von Augustin. Wir müssen daher Possidius dankbar sein, daß er uns in die Tagesarbeit Augustins hineinsehen läßt, und noch mehr, daß er uns, gewisse Eindrücke aus den Briefen Augustins verstärkend, zeigt, wie der große christliche Theoretiker in bezug auf das tägliche Leben die antiken Grundsätze des Maßhaltens, der Lebensklugheit, der mittleren Linie, der weisen Zurückhaltung und selbst der bewußten Wahrung berechtigter Eigeninteressen nicht verschmäht hat. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, daß er augenscheinlich von extremen asketischen Moralisten angegriffen worden ist (in bezug auf den Fleisch- und Weingenuß und einen gewissen Luxus des Lebens, c. 22), und daß er bei Erwägungen, ob er gegebenenfalls für andere eintreten solle, auch auf die Erhaltung seines eignen guten Rufs Rücksicht genommen hat (c. 20, 1, s. auch c. 27, 2. 3). Aber indem ich diese wichtigen Züge in dem von Possidius gezeichneten Bilde heraushebe, bin ich weit davon entfernt, sie zu überschätzen oder gar dem großen Manne aus ihnen einen Strick zu drehen. Seine Eigenart und seine Stärke ist in dem gegeben, wovon die „Konfessionen“, wovon seine anti-pelagianischen Schriften und wovon zahllose Predigten zeugen. In seinem Gottes-, Sünden- und Erlösungsbewußtsein liegt sie und in seiner Ekklesiastik. Die Verbindung dieser beiden großen disparaten Gebiete ist das Hauptproblem, das seine Erscheinung stellt. Die „Vita“ des Possidius bietet keinen Anlaß, es zu behandeln; aber den „servus dei“ und „testis ecclesiae catholicae“ hat sie schlicht und eindrucksvoll vorgestellt samt dem „Erdenrest“ von dem im Sinne Augustins und Possidius’ das „zu tragen peinlich“, nur bedingt gilt, weil der Priester in der Welt stehen muß und die Kirche, „quae in terris est“, ihn deckt.
Und noch etwas lehrt diese Biographie: Vierzig Jahre hat dieser Schüler und Freund Augustins mit ihm in Verbindung gestanden. Er hat in dieser Verbindung innere Ruhe, den Frieden der Seele, den Ausgleich zwischen Askese und Welt, die Kraft nach außen zu wirken und ein hohes Maß von Gerechtigkeit gewonnen; denn diese Züge treten uns in dem Bilde des Possidius entgegen. Wenn das für die Schule Augustins überhaupt gilt und zugleich ihre religiöse Sprache schlichter ist und dem Leben nähersteht als die ihrer griechischen Brüder, so steigert das unsere Ehrfurcht vor dem Meister. Sie haben sich nicht in Bewunderung für ihn erschöpft, sondern sie sind ihm nachgefolgt.
-
Hierher gehört auch, dass Possidius die Kontroverse zwischen Augustinern und Semi-Augustinern (Semi-Pelagianern), die im Jahrzehnt, in welchem er geschrieben hat, besonders lebendig gewesen ist, sowie die Prädestinationslehre ganz beiseite gelassen hat. Die innere Teilnahme an dieser Kontroverse hat ihm wahrscheinlich gefehlt. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhange vielleicht auch, daß im „Indiculus opp. Augustini“ des Possidius zwar die Schrift „De correptione et gratia“ und das „Opus imperfectum contra Julianum“ sich finden, nicht aber die Schriften „De praedestinatione sanctorum“ und „De dono perseverantiae“. ↩
-
Damit ist verwandt, daß Augustin sich augenscheinlich gerne für seine Verwaltungsgrundsätze und -praxis auf Autoritäten bzw. weise Vorgänger berufen hat (s. c. 19ff.), nicht nur auf Ambrosius und christliche, sondern auch auf heidnische. ↩
