4.
Von einem besonderen Grundgedanken, einem eigentümlichen Plane läßt sich bei den zehn Büchern Fränkischer Geschichte kaum reden. Der Zweck derselben ist kein anderer, als der allgemeinste jeder historischen Darstellung, Kunde von der Vergangenheit der Nachwelt zu überliefern.
»So mancher hat oftmals gesprochen: »Wehe über unsere Tage, daß die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist und niemand im Volke sich findet, der, was zu unsren Zeiten geschehen, zu Papier bringen könnte!« Da ich solches und anderes der Art unablässig wiederholen hörte, habe ich, daß der Vergangenheit gedacht würde und sie zur Kenntnis der Nachwelt käme, nicht umhin gekonnt, selbst die Drangsale der Ruchlosen und das Leben der Rechtschasfenen an das Licht zu bringen, wenn ich es auch nur in schlichter, kunstloser Rede vermag«
So äußert sich Gregor selbst über Absicht und Zweck seines Werks, und seine Arbeit begann daher eigentlich erst da, wo die schriftliche Überlieferung durch Andre aufhörte. Um S. XXXVI jedoch dem Beispiele andrer Chronisten zu folgen und zugleich eine vollständige Berechnung der Jahre seit Erschaffung dkk Welt anzulegen1 begann er von der Schöpfung, ohne daß es seine Absicht gewesen wäre, eine eigentliche Weltgeschichte zu schreiben. Das erste Buch beruht, wie er selbst sagt, fast ganz auf Eusebius, Hieronymus und Orosius2, deren Nachrichten er einerseits im Auszuge zusammenstellte, andrerseits durch einheimische Heiligengeschichten notdürftig ergänzte, außerdem zog er für die Ehronologie noch Victurius zu Rate. Jm zweiten Buche, wo er die fränkische Eroberung zu erzählen hat, bewegt er sich schon freier. Er erwähnt hier freilich gelegentlich noch des Orosius, führt längere Stellen aus Renatus Frigiredus und Sulpicius Alexander3 an, zwei Geschichtsschreiber des fünften Jahrhunderts, deren Verlust wir nach Gregors Mitteilungen sehr bedauern müssen, er beruft sich ferner auf annalistische Aufzeichnungen in den Konsulnlisten und gründet auf sie wohl hauptsächlich seine Zeitberechnung4; aber daneben folgt er offenbar schon hier der mündlichen Tradition, die ihm, der nur etwa dreißig Jahre nach Chlodovechs Tode geboren war, noch zugänglich sein mußte. Ausführlich und anschaulich schildert er Chlodovechs Taten; der frische Hauch des Lebens durchweht diese Darstellung, wie sie noch aus lebendiger, aber schon mit sagenhaften Elementen gemischter Tradition floß. Jm dritten Buche schöpft Gregor aus dieser allein, aber, an weniger hervorragende Persönlichkeiten S. XXXVII geknüpft, war sie dürftiger und ohne stätigen Zusammenhang. Man merkt dies der Darstellung an, sie ist ungleichmäßiger und meist nur ausführlich in den besonderen Angelegenheiten der Auvergne. Die Ehronologie ist unsicher. Es sind die Erzählungen der Väter, welche Gregor hier wiedergibt. Das vierte Buch enthält dann die Ereignisse, welche in die frühere Lebenszeit Gregors fallen. Auch hier treten die Begebenheiten in der Auvergne noch besonders hervor und bilden gleichsam den Mittelpunkt der Erzählung. Die Ehronologie ist nicht selten verwirrt und erst gegen das Ende des Buchs gewinnen wir feste Anhaltpunkte. Das Buch schließt mit dem Tode Sigiberts im Jahre 575; damals saß Gregor schon zwei Jahre auf dem Bischofsstuhle von Tours. Vom fünften Buche an erzählt er dann recht eigentlich Zeitgeschichte, Begebenheiten, bei denen er zum großen Teil Augenzeuge war. Die Schicksale der Stadt Tours und ihres Landgebiets treten in den Vordergrund. Die annalistifche Anordnung wird streng durchgeführt, nach den Regierungs-fahren König Ehildeberts der gesamte Stoff geordnet. Das Buch erhält hier den Charakter von Denkwürdigkeitew die Beziehungen des Verfassers zu seiner Zeit treten überall deutlich hervor, er führt sich selbst nicht selten in die Erzählung ein und berichtet Alles, was ihn berührt, mit der Breite des persönlichen Interesses, häufig unter den ersten unmittelbaren Eindrücken der Begebenheiten. Wir haben aus den Zeiten, denen Gregor nahe stand, in dieser Beziehung kein ähnliches Werk, in dem späteren Mittelalter ist ihm Thietmars Chronik zu vergleichen5. Es sind Geschichten, keine Geschichte Es liegt Gregor fern, den inneren Zusammenhang der Dinge zu erforschen, aus den allgemeinen Weltverhältnissen das einzelne S. XXXVIII Ereignis abzuleiten, die Tatsachen in ihrem Entstehen und Werden zu erklären. Er berichtet nur das nackte Ereignis, so weit es äußerlich oder innerlich ihn berührt; ohne Verbindung stehen die verfchiedenartigsten Begebenheiten nebeneinander, nicht der geringste Versuch zeigt sich , ihren Zusammenhang zu erklären. —-
Das Werk wird in den meisten Handschriften »Geschichte der Franken« genannt, Gregor selbst bezeichnet es, wie wir gesehen haben, »Zehn Bücher Geschichte«; in der sehr alten Corveier Handschrift6 führt es jedoch den Titel: »Zehn Bücher Fränkischer Kirchengeschichte«. Man hat hieraus schließen wollen, daß es vornehmlich in Gregors Absicht gelegen habe, die Geschichte der fränkischen Kirche zu behandeln. Daß dem nicht so ist, sagt Gregor ausdrücklich in der Einleitung zum zweiten Buche, und das Werk selbst trägt auch offenbar einen viel allgemeineren Charakter. Die Erzählung verbreitet sich über alle Verhältnisse des Lebens und unterscheidet eben dadurch dies Werk von den andren unsres Gregors. Wenn aber nichts desto weniger die kirchlichen Verhältnisse in den Vordergrund treten, so liegt dies in der ganzen Anschauungsweise des Verfassers. Auf dem Kampfe gegen die Ungläubigen, namentlich gegen die ketzerischen Arianer, auf der unangetasteten Freiheit der Kirche, der ungeschmälerten Achtung vor den Bischöfen, der Freigebigkeit gegen die geistlichen Stiftungen, der gewissenhaften Beobachtung der kirchlichen Satzungen beruht nach seiner Ansicht das Heil und Glück der Könige, wie die Sicherheit und das Wohl des Staats und jedes Einzelnen. Denn Gott straft schon in diesem Leben unverzüglich den Unglauben und Alles, was gegen seine Kirche unternommen wird, während er nicht minder den rechten Glauben und die guten Werke alsobald belohnt. Von diesem Standpunkt aus wird ihm die ganze Geschichte zu einem Kampfe S. XXXIX der Kirche, wie mit dem Unglauben der Heiden und Ketzey so mit dem Trotz und der Zügellosigkeit der weltlichgesinnten Christen, die sich unter ihr Joch nicht beugen wollen: die Universalgeschichte konzentriert sich in den Schicksalen der rechtgläubigen Kirche.
Man hat in neuerer Zeit als den mächtigsten Gegensatz, der Gallien in Gregors Epoche bewegt habe, einen erbitterten Kampf zwischen dem germanischen und romanischen Stamm hervorgehoben und ihm alle andren Erscheinungen des Lebens untergeordnet. Bemerkenswert scheint daher, daß bei Gregor selbst dieser Gegenfatz kaum hervortritt, obwohl er, wenn er in dieser Schärfe vorhanden gewesen wäre, sich doch ihm, der einer so vornehmen römischen Familie angehörte, hätte empfindlich fühlbar machen müssen. Es ist freilich wahr, daß er die Franken häufig Barbaren nennt7, aber nicht minder gewiß, daß damit nur ihre fremdartige A l« tmmung ohne einen schimpflichen oder verächtlichen Nebenbegriff bezeichnet sein soll8. Wenn schutzflehende Mönche die Franken Barbaren anredeten9, so mußte« das Wort wohl schon jede gehässige Beziehung verloren haben. Die Eroberung Chlodovechs preist Gregor vielmehr als ein Glück für das Land und feiert den Eroberer als einen Gott gefälligen Helden: »Gott warf Tag für Tag seine Feinde vor ihm zu Boden und vermehrte sein Reich, darum daß er rechten Herzens vor ihm wandelte und tat, was seinen Augen wohlgefällig war10«. Und als Gregor die glänzendsten Zeiten der Frankenherrschaft erzählt hat, fährt er fort: »Mit Kummer gehe ich daran, die Zwistigkeiten und Bürgerkriege zu erzählen, die das Volk und die Herrschaft der Franken so sehr in Ver- S. XL sall bringen11«. Zeugnis genug, daß Gregor die Franken um ihrer Nationalität willen nicht haßte. Wenn er sie tadelt, so geschieht es um ihres Aberglaubens, ihrer Trunksucht und ihres Trotzes willen, aber auch auf die Römer häuft er deshalb nicht minder harte Vorwürfe. Wir sind deshalb wohl zu der Annahme berechtigt, daß der Haß der Nationalitäten selbst damals in Gallien schon im Ersterben, wo nicht gänzlich erloschen war. Der Widerftreit zwischen Romanismus und Germanismus, wie er in den Institutionen des Staates begründet lag, lebte sreilich fort und übte einen tiefgreifenden Einfluß auf alle Erscheinungen des Lebens.
Jch möchte nicht behaupten, wie es von andrer Seite geschehen ist, Vaterlandsliebe sei dem Herzen Gregors ein fremdes Gefühl gewesen, aber gewiß ist, daß er sich vornehmlich als ein Sohn der Kirche, »unsrer Aller Mutter,« fühlte. Seine Liebe gehörte ihr, »die uns durch die Fluten und Klippen dieser» Zeit führt, durch ihre mütterliche Sorgfalt vor den drohenden Ubeln bewahrt und uns in liebevoller Umarmung fchützt12.« Sie ist ihm zugleich die unbefleckte Jungfrau, die weder Makel noch Runzel hat. Wenn man aber darzulegen versuchte, daß er aus Vorliebe für die Kirche absichtlich die Zeitgeschichte entstellt habe, und dadurch überhaupt feine Glaubwürdigkeit in Frage stellte, so zeigte man hierin meines Erachtens nur selbst einen parteiischen, ungerechtfertigten Argwohn. Es treten uns Im Gegenteil im Gregor unverkennbare Züge aufrichtiger Wahrheitsw liebe entgegen. So sehr er Chlodovech feiert, erzählt er doch unverhüllt seine Schandtaten. Niemand mochte er bitterer hassen, als König Chilperich und Fredegunde, schwarz gCUUS ist J« Schilderung, die er von ihnen entwirft, aber nichts desto weniger verfchweigt er es nicht, daß Ehilpekkch sich öfters d« CIIISEUMUVU Bewunderung wegen seiner Klugheit und Selbstbeherrschung er- S. XLI freute, und läßt in Fredegunde die tiefe Zerknirschung über ihre Sündenschuld und eine rührende Liebe zu ihren Kindern erkennen. Was konnte in seinen Augen verwerflicher sein, als der Hochmut des Priesters Cato, der den Bischofsstuhl zu Tours und die Kirche des heiligen Martinus verschmäht hatte? Und doch hinderte der Haß gegen diesen Mann ihn nicht, die großen Tugenden desselben offen anzuerkennen. Aus Vorliebe für den geistlichen Stand, behauptet man, habe er die Verbrechen desselben zu beschönigen gesucht, ja selbst sich offen zum Verteidiger verbrecherischer Geistlicher aufgeworfen, und beruft sich dabei hauptsächlich auf sein Auftreten in dem Handel des Bifchofs Prätextatus. Aus seiner eigenen Erzählung, sagt man, ginge die Schuld dieses Bifchofs deutlich hervor, und doch habe Gregor sich desselben angenommen. Es ist schwer, in dieser Sache ganz klar zu sehen, denn wir sind auf die Nachrichten Gregors beschränkt13 die manche Frage frei lassen; was Fredegar hinzufügtz ist unerheblich, denn es beruht nur auf Gregors eigener Darstellung. Aus dieser scheint mir nun hervorzugehen, daß Gregor keineswegs Prätextatus für völlig unschuldig hielt, aber sein Vergehen nicht als so schwer ansah, daß es nach den Kirchengesetzen seine Absetzung hätte zur Folge haben können. Fredegunde und Chilperich aber wollten Prätextatus verderben; sie erhoben deshalb die schwersten Anklagen gegen ihn und fuchten sie durch Zeugen, die Gregor als falsche bezeichnet, zu erhärten. Gegen dies Verfahren erhob sich Gregor und legte entschiedenen Widerspruch dagegen ein, daß Prätextatus anders als nach den Satzungen der Kirche gerichtet würde. Als Chilperich dann mit Bestimmungen hervortrat, die bis dahin in den gallischen Kirchen keine Geltung gehabt hatten, hinderte Gregor die Anwendung derselben auf den vorliegenden Fall, ohne sich jedoch einer Bestrafung S. XLII nach dem anerkannten Kirchenrechte zu widersetzen14. Es scheint mir, daß hier in dem Verhalten, wie in der Darstellung Gregors kein Anlaß zu Verdächtigungen gegen ihn geboten sei, man müßte denn dartun können, daß ihm die Aussage jener Zeugen, die er als falsch bezeichnet, als in der Wahrheit begründet bekannt war. Daß das erzwungene Geständnis des Prätextatus hierzu nicht hinreicht, liegt auf der Hand. Sollte aber Gregor auch wirklich der Wahrheit hier etwas vergeben haben, so wäre das Motiv sicherlich «
nicht darin zu suchen, einen Makel der Geistlichkeit zu verheimlichen. Denn was hülfe es ihm, in einem einzelnen Falle eine Schuld zu verdecken, während er doch an so vielen anderen Stellen unwürdige Priester des Herrn ohne Schonung brandmarkt. Für die Bischöfe Salunius und Sagittarius hat er kein Wort der Entschuldigung15. Den Bifchof Felix von Nantes nennt er den habsüchtigsten und unverschämtesten Menschen16. Den Bischof Pappolus beschuldigt er vielfacher Ungerechtigkeiten17 den Bischof Eunius der gräulichsten Trunksucht18 Jn dem Bischof Cautinus, sagt er, sei keine Spur von heiliger Gesinnung, nichts Gutes gewesen19 u. s. w. Wiederholt erklärt Gregor selbst, er wolle seine Amtsbrüder nicht zu sehr herabsetzen, deshalb verschweige er manches, was er von ihnen wisse. Dies mag man ihm, wenn man will, zur Last legen, aber schwerlich wird sich beweisen lassen, daß er gut genannt habe, was ihm als böse erschien.
Wenn man nun auch nach meiner Meinung die Redlichkeit und Wahrheitsliebe Gregors mit Unrecht in Zweifel gezogen hat, so fehlt doch viel daran, daß man auf seine Worte und sein Urteil sich unbedingt verlassen dürfe. Er bezahlte bei allem redlichen Willen de: menschlicheu Schwäche seinen reichlichen TributJch will nicht davon sprechen, daß wir ein andres Maß für S. XLIII menschliche Größe und Bedeutung haben, als die Orthodoxie des sechsten Jahrhunders, daß er überdies einem Geschlechte angehörte, das Zeichen und Wunder auf jedem Schritte sah, weil es überall unmittelbare Ofsenbarungen der Gottheit suchte. Was uns hierin als Gebrechen erscheint, ist Zeichen der Zeit und trifft ihn nicht besonders. Aber in der Sinnesart des Mannes selbst lag noch ein besonderes Hindernis für ihn, die Wahrheit klar und ungetrübt zu erkennen. Es fehlte ihm, wenn uns nicht alles täufcht, jene prüfende Ruhe und ängstliche Sorgsamkeit, ohne welche der Geschichtsschreiber bei aller Aufrichtigkeit doch immer Gefahr läuft, die Tatsachen irrig darzustellen.
Es finden sich in den beiden ersten Büchern, wo Gregor seine Erzählung aus anderen Schriften großenteils schöpfte, eine erhebliche Zahl von Jrrtümern, die nur der Flüchtigkeit beizumessen sind, denn Gregor hatte die Hilfsmittel zur Hand, sie zu verbessern. Wiederholentlich ist in den Anmerkungen auf solche Jrrtümer verwiesen. Besonders auffällig sind sie besonders da, wo Gregor ausdrücklich die eigenen Worte seiner Quelle wiederzugeben behauptet. So führt er Bd. II. Kap. 9 eine Stelle aus Orosius über einen Kriegszug des Stilicho an, Orosius spricht aber an dieser Stelle gar nicht von Stilicho, sondern von den Vandalen.« In der Einleitung zum fünften Buch wird eine angebliche Außerung desselben Schriftstellers über Carthago angeführt, die sich so nicht bei ihm findet20 Sehr häufig nimmt Gregor längere Stellen der heiligen Schrift in seinen Text auf, aber selten nach dem genauen Wortlaut der damals üblichen S. XLIV lateinischen Übersetzung, öfters sogar mit recht wesentlichen Änderungen. Bei einer so flüchtigen Behandlung vorliegender Quellen steht an sich kaum zu erwarten, daß er die mündliche Tradition immer scharf und bestimmt aufgefaßt, noch weniger, daß er sie einer sorgfältigen Prüfung unterworfen habe. Und in der Tat ist die Erzählung Gregors, wo wir sie einer Prüfung unterwerfen können, nichts weniger als genau und zuverlässig. Dies tritt namentlich bei den Abschnitten des Werkes, die sich auf die Geschichte fremder Reiche beziehen, hervor. Die Reihenfolge der vandalischen Könige ist durchaus irrig angegeben21 Was von dem ostgotischen Reiche nach Theoderichs Tode erzählt wird, ist ein Gemisch von Fabeln und Jrrtümern22. Falsch ist es, wenn Gregor den Burgunderkönig Gundevech einen Nachkommen des Westgotenkönigs Athanarich nennt23, und auch sonst sind die Nachrichten über das Westgotenreich nicht ohne Jrrtümer24 Nicht minder erweisen sich manche Erzählungen über den Hof zu Konstantinopeh wenn man die byzantinischen Geschichtsschreiber zu Rate zieht, als völlig unbegründet25 Nach solchen Beobachtungen ist kaum zu bezweifeln, daß, wofern uns ausführliche und glaubwürdige Quellen zur Geschichte jener Epoche des Frankenreiches, die Gregor beschrieben hat, neben ihm zu Gebote ständen, seine Erzählung vielfache Berichtigungen erfahren würde26 Aber trotzdem haben wir anzunehmen, daß sie gerade hier, wo er die Wahrheit am leichtesten ermitteln konnte, wo sie sich glekchfam ihm ausdrängte, am sreiesten von Jrrtümern ist und in dem« selben Verhältnis an Glaubwürdigkeit gewinnt, wie er den Er« eignissen und den handelnden Personen näher tritt. Denn wie S. XLV sehr man auch seine Leichtgläubigkeit und Sorglosigkeit — Fehler, die, wie ein Schriftsteller des Altertums sagt, bei einem Geschichtsschreiber gleich schwer ins Gewicht fallen, -— wie sehr man diese auch tadeln mag, die Wahrheitsliebe Gregors hat man meines Ermessens mit Unrecht bezweifelt. —
Gregor war, wie wir gesehen haben, weder mit der Literatur des Altertums völlig unbekannt, noch von jener philologischrhetorischen Schulbildung, wie sie sich damals noch kümmerlich in Gallien erhielt, ganz unberührt geblieben. Es konnte ihm daher nicht entgehen, wie wenig seine Darstellung den Mustern römischer Geschichtsschreibung entsprach und wie vielfachen Anlaß zu Ausstellungen sie den Gelehrten seiner Zeit darbot. Er machte sich darüber keine Täuschung, daß eine gründlich grammatische Kenntnis seiner eigenen Sprache ihm fehle, und gesteht dies wiederholentlich offen ein. Er verwechsele, klagt er sich selbst an, das Geschlecht der Wörter, setze falsche Kasus, verbinde die Präpositionen unrichtig und habe überhaupt in keiner Weise die nötige grammatische Bildung27 Diese Anklagen sind völlig begründet, und weiß er sich so schon mit der Grammatik nicht abzufinden, so kann er natürlich den Ansprüchen der Stilistik noch um vieles weniger genügen. Seine Schreibart ist roh und ungelenk, die Satzverbindung höchst mangelhaft28 der Ausdruck bald durch Kürze und Abgerissenheit dunkel und vieldeutig, bald weitschweifig und matt, selbst die einfachsten und naturgemäßesten Regeln der Komposition werden nicht beachtet.
Wenn Gregor im vollen Bewußtsein dieser Unzulänglichkeit sich dennoch mit Eifer seinen literarischen Arbeiten unterzog, so leitete ihn dabei das richtige Gefühl, daß die Gelehrten seiner Zeit zu diesen völlig ungeschickt seien. Jene Bildung war, wie S. XLVI gesagt, keiner frischen Produktion mehr fähig, zu nichts Höherm konnte sie sich in der poetischen Darstellung, die sie doch mit Vorliebe trieb, aufschwingen, als zu frostigen Nachahmungeu Virgils, Ovids und des Seduliusk Was ihr als mustergültige Prosa erschien, war ein leeres Wortgepränge, das die Armut neuer Gedanken mit antiken Phrasen mühsam verdeckte. Gregor spricht es selbst wiederholentlich aus, nur wenige verstanden diese Sprache, dem Volke sei sie ganz dunkel und es rühme die Rede des fchlichten Mannes. Die Armut und Abgeschmacktheit dieser Schulproduktionen sieht man schon an den poetischen und prosaischen Schriften des Fortunatus, den angestaunten Meisterwerken der Zeit.
Papst Gregor der Große, der Zeitgenosse unseres Gregors, bekämpfte, da er selbst als einer der tüchtigsten Schulgelehrten die ganze Eitelkeit und Hohlheit dieser Weisheit, die überdies dem Christentum häufig hinderlich in den Weg trat, erkannt hatte, sie mit allen Waffen seines mächtigen Geistes und brach einer neuen theologischen Literatur Bahn. Was bei ihm mit vollem Bewußtsein geschah, tritt bei unfrem Gregor mehr unwillkürlich hervor. Obwohl als Jdiot nicht ohne Achtung vor jener Schulbildung, fühlt er doch die unendliche Leere derselben und empfiehlt nicht ohne Jronie jenen Gelehrten den Stoff, den er in schlichter Rede behandelt, in prächtigen Versen weitschweifig darzustellen. So, meint er, habe er ihnen doch einen Dienst geleistet, indem er ihnen einen neuen Gegenstand geboten, er wehre ihnen nicht, sich desselben zu bemeistern, nur sollten sie seine kunstlosen Worte unberührt lassen29. Jm übrigen weiß er sich gegen ihren Tadel zu waffnen; auch der Herr selbst habe ja, um die Weisheit der Welt zuschanden zu machen, sich Fischer S. XLVII und unwissende Leute erwählt, und so schreibe auch er, wie das Volk ihn verstehe.
Jndem Gregor die gewohnte Bahn der Schule verließ, schlug er in seinem ersten Werke »von den Wundern des heiligen Martinus« eine Straße ein, welche die kirchliche Geschichtsschreibung schon früher betreten hatte. Neben jener gelehrten Literatur hatte sich bereits an der einfachen Ausdrucksweise der heiligen Schrift eine schlichte, kunstlose Darstellung für die Legende ausgebildet. Diese entsprach dem Sinne, wie den Fähigkeiten Gregors, und er bewegte sich in derselben in seinen Büchern von den Wundern nicht ohne Geschick und Leichtigkeit Was war nun natürlicher, als daß er ihr auch in. seinen zehn Büchern Fränkischer Geschichte treu blieb, so neu es immerhin scheinen mochte, die weltliche Geschichte in dieser Form zu behandeln? Unausbleiblich war es, daß hierdurch ein nicht geringer Teil des Werks ganz den Charakter der christlichen Legende erhielt und mehr der Erbauung als der Belehrung gewidmet schien. Man hat dies oft getadelt, aber in Wahrheit tut es dem Gesamteims druck des Werks keinen Abbruch. Gerade hierdurch sind einige Lichtpunkte mehr in ein Gemälde gekommen, das des Schattens nur zu viel bietet. Und wenn der Geschichtsschreiber keine höhere Aufgabe hat, als ein getreues Spiegelbild der dargestellten Ereignisse und Zustände zu geben: war denn nicht die Zeit Gregors gerade eine solche, wo kirchliches und weltliches Leben ohne feste Grenzen in und durcheinander lief? Eher möchte zu bedauern fein, daß Gregor sich in der Form nicht noch enger an die Legende anschloß Gerade die schwächsten Stellen seines Werks sind die, wo er der antiken Geschichtsschreibung nahe zu treten die Absicht verrät, hier wird der Ausdruck durch Affektation bis— Weilst! Vömg ungenießbar. Zum Glück sind solcher Stellen nur wenige, und im allgemeinen ist der Stil der Legende treu bewahrt. Indem Gregor diesen Weg einschlug, wurde er gleichsam der S. XLVIII Vater einer Geschichtsschreibung, die dem Mittelalter eigentümlich ist und sich am vollkommensten in dieser Zeit ausgebildet hat.
Die Einfachheit und Natürlichkeit dieser Erzählungen übt einen unendlichen, immer frischen Reiz auf den Leser aus. Jn ihnen kehrte die Geschichtsschreibung, so verändert auch sonst Jnhalt und Form ist, doch in gewisser Weise zu jenen Anfängen zurück, aus denen sie sich zu bewunderungswürdiger Mannigfaltigkeit unter den Griechen entwickelt hatte. Es liegt in dem Worte, daß Gregor der Herodot des Mittelalters sei, wohl eine Wahrheit. Hätte er sich der dünkelhaften Schulweisheit seiner Zeit gefügt, er würde sein Werk nicht geschaffen oder es würde kaum seine Zeit überdauert haben. Jndem er sich jenen engen Banden entzog, wurde er ein Schriftstelley der über ein Jahrtausend gelesen ist und nicht vergessen werden kann, so lange noch Menschen der Vergangenheit denken.
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B. I, Vorrede. ↩
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B. I, K. 36 und 41, Buch II, Vorrede. ↩
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B. II, K. S. ↩
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B. II, Kap. 9; vgl. Kap. 18 u. II. Die Frage nach den annalistischen Quellen Gregors ist neuerdings vielfach verhandelt worden. Als das Resultat der gründlichen Untersuchungen ergibt sich, daß Gregor ravennatische Konsularfasten benutzte, welche zu Arles überarbeitet und fortgesetzt waren. Außerdem waren ihm fränkische Annales! zur Hand, welche wahrscheinlich in Angers niedergeschrieben waren, und burgundische Annalen, die auch von dem Bischof Marias von Avenches, einem Zeitgenossen Gregor-Szu seiner Chronik herangezogen sind. Vergl. O. HoldewEggek TM NCUUJ Akchw d« Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde V. 1. S. 288 ff» W— Atttdt In vszSybels historischer Zeitschkift xxvllr 421 und Bischof Marius von Avettticum Oetpztg 1875) S. 26 und W. Weitem-ach, Deutschlands Geschichtsquellen 1. l(7. AuflJ I— S— 107Ulsl ↩
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Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit XL Jahrhundert. I. Band. Amt: rede S. 1l. sVergL E. v. Ottenthah das Memoirenhafte in Gefchichtsquellett des früheren Mittelalters, 1905.] ↩
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Giesebrecht meint wohl die aus Corbie stammende Handschrift 17655 der Pariser Natiouarbioriothekz hie: findet sich jedoch de: Titel »Ftdvkssche Krebs«geschichte« nicht. ↩
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Besonders die austrasischen Franken. ↩
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Nur in einer Stelle (von den Wundern des heiligen Julianus Kap. 40) scheint dies allerdings der Fall. Aber der Nachdruck liegt auch dort mehr auf der tust-kaltes, die nicht minder bei den Römern getadelt wird. ↩
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B. lV. Kam. 48. ↩
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B. l1. Kap. 40. ↩
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Z· v· Anfang. ↩
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B. I. Kap. 4. Vgl« Kaps l— ↩
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B. V. Kap. 18. ↩
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Chilperich wollte Prätextatus vom Bistum entsetzt sehen. Dis? SVUVVE Vekukteilte ihn dagegen zur Strafe der Verbannung Vgl. B. V. Katz. 18. ↩
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B. v. new. 2o. ↩
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B. v. Krug. s. ↩
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B. V· Kc1p-5 ↩
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V— V— K» «« ↩
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B. IV. Kaki. 12. ↩
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Mein Kollege Herr Direktor von Halm macht mich darauf aufmerksam, daß Gregor wahrscheinlich die Worte bei Drosius B. V. Kap. 8: concordia invicta, dis-discordia exitio fuit vorschwebten. Sie sind dort einem keltischen Fürsten Tiresius in den Mund gelegt und beziehen sich auf Rumantia: Nur beiläufig wird an dieser STelle Carthago erwähnt. Auch das Zitat B. I. Kap. 7 aus der Chronik des Severus ist irrig. ... ↩
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V.11. Kap. 2. s. ↩
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V. 111. nap. 31.32. ↩
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B. II. Kap28· ↩
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V· IV— Katz. 38. z » » ↩
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B. Iv. Kap. 40. B. v. Kap19— lEiUs LIESCHEN! WÜVVISUUS W« N« «) versucht A. Earr1ere, sur un chapttre de Oregon-e de Tours telatxt a l 18 0116 de l’0rieut. Annuaire de Peeole pratique des heut-es etudes 1896, S. 5-—23.J ↩
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Monod a. a. O. S. 109. ff. scheint mir die Glaubwürdigkeit des Gregor zu hoch anzuschlagen. ↩
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Vom Ruhm der Bekennen Vorrede. ↩
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Vgl. Löbell, Gregor von Tours (2. Aufl.) S. 215 und 807. Dem Übersetzer bereitet dieser ganz regellose Stil gewaltige, oft unübersteigbare Hindernisse. ↩
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Vom Ruhme der Bekennen Vorrede. Vergleiche den Schluß de! FkäUkifchEU Geschichte. ↩
