Einführung in den Weg der Vollkommenheit
Als die heilige Theresia im Auftrag ihrer Seelenführer ihre Selbstbiographie, das »Leben«, geschrieben hatte, worin sie auch vieles über das innere Leben eingeflochten, bekamen ihre geistlichen Töchter, die Karmelitinnen des ersten Reformklosters zum heiligen Joseph in Ávila, auf irgendwelchen Umwegen davon Kenntnis. Sie drangen darum in ihre heilige Mutter, sie möchte ihnen von jenen geistlichen Schätzen doch auch mitteilen. Da jedoch das »Leben« viele Nachrichten über noch lebende Personen enthielt, sowie aus verschiedenen anderen Gründen, schien es nicht geraten, es den Schwestern zum Lesen zu geben. Anderseits wollte aber die heilige Reformatorin der Bitte ihrer geistlichen Töchter doch nur zu gerne willfahren. Im Einverständnis bzw. im direkten Auftrag ihres Beichtvaters, P. Báñez O. Pr., machte sie sich denn daran, eigens für ihre geistlichen Töchter des Klosters von Ávila praktische Abhandlungen über das Gebet bzw. das innere Leben zu schreiben, die deren Verhältnissen und Fassungsvermögen angepaßt wären. So entstand, wie die Heilige selbst in der Vorrede dieses Werkes andeutet, die Schrift, die die heilige Verfasserin selbst »Camino de perfección«, »Weg der Vollkommenheit«, überschrieb, manchmal aber auch nur das »Kleine Büchlein« (»el librito pequeño«) oder auch das »Paternoster« nannte.
Die Idee, daß das Gebet ein Weg (camino), und zwar der vorzüglichste, sei, auf dem man zum Gipfel der Vollkommenheit gelangen könne, hat die Heilige wohl aus dem damals sehr verbreiteten Werk des Franziskaners Osuna »El Tercer Abecedario« geschöpft, das sie ja nachweisbar fleißig als Lektüre benützte. Darin heißt es nämlich im vierten Kapitel: »Das Gebet ist ein sehr sicherer Weg, auf dem wir uns zum Gipfel der Liebe erheben können« Vielleicht hat sie auch noch jene andere Schrift eines unbekannten Franziskaners gekannt, die im Jahre 1532 unter dem Titel: »Camino de la perfección del alma« in Sevilla erschienen war. Doch wenn auch der Titel und vielleicht auch die erste Idee entlehnt sein mögen, der Inhalt der Schrift selbst ist von jenen beiden erwähnten ganz und gar verschieden.
Die beiden anderen Namen, welche die Heilige dieser ihrer Schrift noch gibt, wie »Paternoster« oder »Das kleine Büchlein«, sind nur metonymisch zu nehmen, d. h. sie finden nur auf den einen oder anderen Teil des ganzen Werkes ihre Anwendung. Wenn sie z. B. von diesem Werk als dem »librito pequeño« (das »kleine Büchlein«) spricht, meint sie damit hauptsächlich den ersten Teil des »Weges der Vollkommenheit«, der in den Kapiteln 1—25 eine Reihe aszetischer Ratschläge und Mahnungen über das Tugendleben und das innerliche Gebet (Betrachtung) enthält. Wenn sie dagegen vom »Paternoster« spricht, so versteht sie darunter wohl in erster Linie den zweiten Teil des gleichen Werkes, der in den Kapiteln 26—42 in Form eines Kommentars zum Vaterunser eine wundervolle Abhandlung über das mystische Gebet bringt.
Der Charakter des »Weges der Vollkommenheit« ist ein wesentlich praktischer, ich möchte fast sagen apostolischer; es ist ein feuriger Kampfruf zur Gegenreformation. In die stille Abgeschiedenheit des St.JosephsKlosters von Ávila dringen traurige Nachrichten von jenseits der Pyrenäen, wie auch schon in Frankreich die Häresie wütet und sich immer weiter ausbreitet, wie vor allem das heiligste Altarssakrament profaniert wird. Das Herz der von der göttlichen Liebe entflammten Reformatorin möchte bei dieser traurigen Kunde zerspringen vor Schmerz. Darum ruft sie, voll des heiligen Eifers, ihre geistlichen Töchter auf zur Sühne und zum Gebet. »Meine Schwestern«, ruft sie aus, »jetzt ist wahrhaft keine Zeit mehr, in unseren Gebeten dem lieben Gott unsere kleinlichen egoistischen Anliegen vorzutragen; jetzt handelt es sich um größere Dinge! Die Häresie wütet, das Sakrament wird geschändet, ein ungeheurer Brand verzehrt die Christenheit, und Jesus sieht sich von neuem zum Tode verurteilt. An uns ist es, Sühne zu leisten und Christi Evangelium durch treue Gefolgschaft zu schützen. Helft mir, Schwestern, vom Herrn diese Gnade erbitten, daß das Unheil nicht noch weiter um sich greife und täglich immer mehr Seelen zugrunde gehen! Dazu hat euch der Herr hierhergeführt; das ist euer Beruf; das soll eure Beschäftigung sein; dafür sollen eure Tränen fließen; darauf sollen eure Gebete abzielen.«
Das hört sich an wie ein Schlachtruf, der, voll des übernatürlichen Heldentums, das Werk eröffnet und das ganze Werk durchströmt und der auch der Sprache seine Form gibt: kurze, scharf geprägte Sätze, die sich vielfach wie militärische Befehle ausnehmen. Überhaupt ist das ganze Buch ein Werk, das von jugendlicher Kraft durch und durch gesättigt ist. Theresia tritt uns darin entgegen in der Vollkraft der Begeisterungsfähigkeit ihrer Rasse. Sie, die Erbin des Blutes der Ahumada und Cepeda, will auch ihren geistlichen Töchtern etwas von ihrer Eroberungslust, freilich auf geistlichem Gebiete, mitteilen. Und dieser Geist des Heidentums, der sie seit vielen Jahren beseelt und treibt, findet in der Gründung des St.JosephsKlosters und den darauffolgenden Gründungen von geistlichen Stoßtrupps, bestehend aus heroischen Seelen, die sich für die Rettung der unsterblichen Seelen im stillen Beten und Büßen opfern und den Himmel bestürmen, ihre entsprechende Krönung und Erklärung.
Dem entspricht denn auch der Inhalt des Werkes, der ein vorwiegend praktischaszetischer ist: Erziehung der Schwestern zu vollkommenem, übernatürlichem Heldentum. Darum im ersten Teil (Kap. 4—15) weise Mahnungen der heiligen Verfasserin zur Übung der wahren schwesterlichen Liebe, zur Loslösung von allem Geschöpflichen, zur wahren Demut des Herzens; ferner Ratschläge über das innerliche Gebet (Kap. 16—25), denen dann im zweiten Teil (Kap. 26—42) Erwägungen über das Vaterunser folgen mit herrlichen Ausführungen über die Stufen des Gebetes der Sammlung, der Ruhe, der Vereinigung sowie über die Gefahren für geistliche Seelen.
Die Abfassungszeit dieses kostbaren Werkes fällt in das Jahr 1565, wie aus einer gelegentlichen Bemerkung der Heiligen zu entnehmen ist (Vorrede zum »Weg der Vollkommenheit«); und zwar schrieb sie es im St.JosephsKloster zu Ávila. Das Original dieser Handschrift befindet bzw. befand sich bis zum Ausbruch der spanischen Revolution (1936) in der Bibliothek des Escorial, des alten Schlosses der spanischen Könige, wohin es 1592 durch König Philipp II. nebst verschiedenen anderen Handschriften der heiligen Theresia gebracht wurde.
Doch schrieb die Heilige selbst dieses Werk noch ein zweites Mal, und zwar in Toledo, wahrscheinlich im Jahre 1570, nachdem sie schon mehrfache Erfahrungen in der Leitung dieses ihres ersten Reformklosters sowie anderer Gründungen gemacht hatte. Und in dieser neuen Fassung hat die Heilige selbst verschiedentlich Verbesserungen angebracht, manche Sätze der alten Fassung weggelassen, neue hinzugefügt, überhaupt vieles in einer besseren Form und in einem ernsteren Ton gebracht als in jener, die ausschließlich für ihre Töchter des St.JosephsKlosters bestimmt war, in der ein mehr herzlicher, intimer Ton vorherrscht. Das Original dieser zweiten Fassung befindet sich im Karmelitinnenkloster zu Valladolid, und nach dieser Handschrift wurden die späteren Drucke des Werkes hergestellt.
Außer diesen beiden Originalhandschriften existieren noch einige Abschriften des Werkes von zweiter Hand, die schon zu Lebzeiten der Heiligen, zumeist von ihren geistlichen Töchtern, nach dem Original von Valladolid, mit mehr oder minderer Genauigkeit gemacht worden waren, nämlich in Salamanca, Toledo und Madrid.
Da im Laufe der Jahre immer weitere Abschriften vom Original gemacht wurden, und das oft mit nicht unerheblichen Abweichungen vom Urtext, fürchtete die Heilige, der wegen der Erziehung ihrer Töchter zu dem ihr vorschwebenden Ideal der Vollkommenheit dieses Werk sehr am Herzen lag, es möchte diese ihre ursprüngliche Idee zu sehr verwischt und in verstümmelter Form den späteren Geschlechtern überliefert werden. Darum dachte sie selbst ernstlich daran, es dem Druck zu übergeben. Zu diesem Zweck verhandelte sie denn im Jahre 1579 mit einem großen Freunde und Förderer der karmelitanischen Reform, Don Teutonio de Braganza, Erzbischof von Ebora, zwecks Drucklegung. Doch sollte die heilige Verfasserin diese nicht mehr erleben, da es erst ein Jahr nach ihrem Tode, 1583, in Ebora, durch Bemühung des obengenannten Don Teutonio de Braganza im Druck erschien.
Eine zweite Ausgabe des Werkes erschien schon zwei Jahre darauf, 1585, in Salamanca durch P. Hieronymus Gracián O. C. D., und eine weitere 1586 in Valencia. Einen nicht unbedeutenden Fortschritt gegenüber diesen drei Erstlingsausgaben stellt die neue Ausgabe des »Weges der Vollkommenheit« dar, die im Jahre 1588 durch Pater Ludw. de León O. S. A. in Salamanca zusammen mit dem »Leben« hergestellt wurde, da dieser sich genauer an das Original hielt und auch Verbesserungen, welche die Heilige selbst noch in manchen Abschriften angebracht hatte, berücksichtigte. Eine Ausgabe der Originalhandschrift vom Escorial erfolgte zum erstenmal 1861 durch D. Vicente de la Fuente in seiner Biblioteca de Autores Españoles in Madrid. Die neueste Originalausgabe des »Weges der Vollkommenheit« durch P. Silverio de S. Teresa C. D., die als III. Band der Gesamtwerke der heiligen Theresia 1916 in Burgos erschien und die auch unserer deutschen Übertragung zugrunde liegt, ist genau nach der Originalhandschrift von Valladolid hergestellt; doch sind in den Anmerkungen die verschiedenen Abweichungen im Texte von der Escorialhandschrift und anderen authentischen Abschriften wiedergegeben, wie auch in einem eigenen Anhang der Gesamttext der Escorialhandschrift sowie der Abschrift von Toledo beigegeben ist, so daß Kenner und Freunde der Schriften der heiligen Theresia den Text dieses Werkes in seinen einzelnen Abweichungen miteinander vergleichen können.
P. Ambrosius a S. Teresia O. C. D. (Rom)
